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Письмо незнакомки / Brief einer Unbekannten
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Mein Kind ist gestern gestorben – es war auch Dein Kind. Es war auch Dein Kind, Geliebter, das Kind einer jener drei N"achte, ich schw"ore es Dir, und man l"ugt nicht im Schatten des Todes. Es war unser Kind, ich schw"ore es Dir, denn kein Mann hat mich ber"uhrt von jenen Stunden, da ich mich Dir hingegeben.

Es war unser Kind, Geliebter, das Kind meiner wissenden Liebe und Deiner sorglosen, fast unbewussten Z"artlichkeit, unser Kind, unser Sohn, unser einziges Kind. Aber Du fragst nun – vielleicht erschreckt, vielleicht bloss erstaunt, – Du fragst nun, mein Geliebter, warum ich dies Kind Dir alle diese langen Jahre verschwiegen und erst heute von ihm spreche! Doch wie h"atte ich es Dir sagen k"onnen? Nie h"attest Du mir, der Fremden, der allzu Bereitwilligen dreier N"achte geglaubt. Und dann, ich kenne Dich; ich kenne Dich so gut, wie Du kaum selber Dich kennst… Du h"attest mich – ja, ich weiss es, dass Du es getan h"attest, wider Deinen eigenen wachen Willen, – Du h"attest mich gehasst f"ur dieses Verbund.

Ich klage Dich nicht an, mein Geliebter, nein, ich klage Dich nicht an. Verzeih mir, wenn mir manchmal ein Tropfen Bitternis in die Feder fliesst.

Ich weiss ja, dass Du gut bist und hilfreich im tiefsten Herzen, Du hilfst jedem, hilfst auch dem Fremdesten, der Dich bittet. Aber Deine G"ute ist so sonderbar, aber sie ist – verzeih mir – sie ist tr"age. [60] Du hilfst, wenn man Dich ruft, Dich bittet, hilfst aus Scham, aus Schw"ache und nicht aus Freudigkeit. Einmal, ich war noch ein Kind, sah ich durch das Guckloch an der T"ur, wie Du einem Bettler [61] etwas gabst. Du gabst ihm rasch und sogar viel, noch ehe er Dich bat, aber Du reichtest es ihm mit einer gewissen Angst und Hast hin, er m"ochte nur bald wieder fortgehen, es war, als h"attest Du Furcht, ihm ins Auge zu sehen. Diese Deine unruhige, scheue, vor der Dankbarkeit fl"uchtende Art des Helfens habe ich nie vergessen. Und deshalb habe ich mich nie an Dich gewandt. Ich weiss, du h"attest mir damals zur Seite gestanden auch ohne die Gewissheit, es sei Dein Kind, Du h"attest mich getr"ostet, mir Geld gegeben, reichlich Geld, aber immer nur mit der geheimen Ungeduld, das Unbequeme von Dir wegzuschieben.

60

tr"age –

ленивый

61

Bettler, m – нищий

Aber dieses Kind war alles f"ur mich, war es doch von Dir, nochmals Du, aber nun nicht mehr Du, der Gl"uckliche, der Sorglose, den ich nicht zu halten vermochte, sondern Du f"ur immer – so meinte ich – mir gegeben, verhaftet in meinem Leibe [62] , verbunden in meinem Leben. Nun hatte ich Dich ja endlich gefangen, ich konnte Dich, Dein Leben wachsen sp"uren in meinen Adern [63] , Dich tr"anken, Dich liebkosen, Dich k"ussen, wenn mir die Seele danach brannte. Siehst du, Geliebter, darum war ich so selig [64] , als ich wusste, dass ich ein Kind von Dir hatte, darum verschwieg ich Dir es: denn nun konntest du mir nicht mehr entfliehen. Geliebter, es waren nicht nur so selige Monate, wie ich sie voraus f"uhlte in meinen Gedanken, es waren auch Monate voll Grauen und Qual, voll Ekel vor der Niedrigkeit [65] der Menschen. Ich hatte es nicht leicht. In das Gesch"aft konnte ich w"ahrend der letzten Monate nicht mehr gehen, damit es den Verwandten nicht auff"allig werde und sie nicht nach Hause berichteten. Von der Mutter wollte ich kein Geld erbitten – so fristete [66] ich mir mit dem Verkauf von dem bisschen Schmuck, den ich hatte…

62

Leib, m – тело

63

Adern, f, -n – вена

64

selig – счастливый, блаженный

65

Niedrigkeit, f – низость, подлость

66

fristen – перебиваться

Eine Woche vorher wurden mir aus einem Schranke von einer W"ascherin die letzten paar Kronen gestohlen, so musste ich in die Geb"arklinik [67] . Dort, wo nur die ganz Armen, die Ausgestossenen und Vergessenen sich in ihrer Not hinschleppen, dort, mitten im Abhub [68] des Elends, dort ist das Kind, Dein Kind geboren worden. Was die Armut an Erniedrigung, an seelischer und k"orperlicher Schande zu ertragen hat, ich habe es dort gelitten an dem Beisammensein [69] mit Dirnen und mit Kranken, die aus der Gemeinsamkeit des Schicksals eine Gemeinheit machten, an der Zynik der jungen "Arzte, die mit einem ironischen L"acheln der Wehrlosen [70] das Betttuch aufstreiften und sie mit falscher Wissenschaftlichkeit antasteten, an der Habsucht [71] der W"arterinnen. Die Tafel mit deinem Namen, das allein bist dort noch du, denn was im Bette liegt, ist bloss ein zuckendes St"uck Fleisch, betastet von Neugierigen, ein Objekt der Schau und des Studierens – ah, sie wissen es nicht, die Frauen, die ihrem Mann, dem z"artlich wartenden, in seinem Hause Kinder schenken, was es heisst, allein ein Kind zu geb"aren! Und lese ich noch heute in einem Buche das Wort H"olle, so denke ich pl"otzlich wider meinen bewussten Willen an jenen vollgepfropften [72] Saal.

67

Geb"arklinik, f – родильный приют

68

Abhub, m – объедки

69

Beisammensein, n – наравне

70

wehrlos – беззащитный, незащищённый

71

Habsucht, f – алчность

72

vollgepfropften – битком набитый

Verzeih, verzeih mir, dass ich davon spreche. Aber nur dieses eine Mal rede ich davon, nie mehr, nie mehr wieder. Elf Jahre habe ich geschwiegen davon, und werde bald stumm sein in alle Ewigkeit: einmal musste ich ausschreien wie teuer ich es erkaufte, dies Kind, das meine Seligkeit war und das nun dort ohne Atem liegt. Ich hatte sie schon vergessen, diese Stunden, l"angst vergessen im L"acheln, in der Stimme des Kindes, in meiner Seligkeit; aber jetzt, da es tot ist, wird die Qual wieder lebendig, und ich musste sie mir von der Seele schreien, dieses eine Mal. Aber nicht Dich klage ich an, nur Gott, nur Gott, der sie sinnlos machte, diese Qual.

Nicht Dich klage ich an, und nie habe ich mich im Zorn [73] erhoben gegen Dich. Selbst in der Stunde, habe ich Dich nicht angeklagt vor Gott. Immer habe ich Dich geliebt, immer die Stunde gesegnet [74] , da Du mir begegnet bist. Und m"usste ich noch einmal durch die H"olle jener Stunden und w"usste vordem, was mich erwartet, ich t"ate es noch einmal, mein Geliebter, noch einmal und tausendmal!

Unser Kind ist gestern gestorben – Du hast es nie gekannt. Ich hielt mich lange verborgen [75] vor Dir, sobald ich dies Kind hatte; meine Sehnsucht nach Dir war weniger schmerzhaft geworden, ja ich glaube, ich liebte Dich weniger leidenschaftlich, zumindest litt ich nicht so an meiner Liebe, seit es mir geschenkt war. Ich wollte mich nicht zerteilen zwischen Dir und ihm; so gab ich mich nicht an Dich, den Gl"ucklichen, sondern an dies Kind, das mich brauchte, das ich n"ahren [76] musste, das ich k"ussen konnte und umfangen. Ich schien gerettet vor meiner Unruhe nach Dir, gerettet durch dies Dein anderes Du.

73

Zorn, m – гнев

74

segnen – благословлять

75

verbogen (verbiegen) – скрываться

76

n"ahren – кормить

Nur eines tat ich: zu Deinem Geburtstag sandte ich Dir immer ein B"undel weisse Rosen, genau dieselben, wie Du sie mir damals geschenkt nach unserer ersten Liebesnacht. Hast Du je in diesen zehn, in diesen elf Jahren Dich gefragt, wer sie sandte? Hast Du Dich vielleicht an die erinnert, der Du einst solche Rosen geschenkt? Ich weiss es nicht und werde Deine Antwort nicht wissen. Nur aus dem Dunkel sie Dir hinzureichen, einmal im Jahre die Erinnerung aufbl"uhen zu lassen an jene Stunde – das war mir genug.

Du hast es nie gekannt, unser armes Kind – heute klage ich mich an, dass ich es Dir verbarg, denn du h"attest es geliebt. Nie hast Du ihn gekannt, den armen Knaben, nie ihn l"acheln gesehen, wenn er leise die Lider aufhob und dann mit seinen dunklen klugen Augen – Deinen Augen! – ein helles, frohes Licht warf "uber mich, "uber die ganze Welt. Er wurde immer mehr Du; schon begann sich auch in ihm jene Zweif"altigkeit von Ernst und Spiel, die Dir eigen ist, sichtbar zu entfalten, und je "ahnlicher er Dir ward, desto mehr liebte ich ihn. Er hat gut gelernt, er plauderte Franz"osisch wie eine kleine Elster [77] , seine Hefte waren die saubersten der Klasse, und wie h"ubsch war er dabei, wie elegant in seinem schwarzen Samtkleid oder dem weissen Matrosen J"ackchen. Immer war er der Eleganteste von allen, wohin er auch kam; in Grado am Strande, wenn ich mit ihm ging, blieben die Frauen stehen und streichelten sein langes blondes Haar. Er war so h"ubsch, so zart, so zutunlich: als er im letzten Jahre ins Internat des Theresianums kam, trug er seine Uniform und den kleinen Degen wie ein Page aus dem achtzehnten Jahrhundert – nun hat er nichts als sein Hemdchen an, der Arme, der dort liegt mit blassen Lippen und eingefalteten H"anden.

77

Elster, f, -n – сорока

Aber Du fragst mich vielleicht, wie ich das Kind so im Luxus erziehen konnte, wie ich es vermochte, ihm dies helle Leben der oberen Welt zu verg"onnen. Liebster, ich spreche aus dem Dunkel zu Dir; ich habe keine Scham, ich will es Dir sagen, aber erschrick nicht, Geliebter – ich habe mich verkauft. Ich hatte reiche Freunde, reiche Geliebte: zuerst suchte ich sie, dann suchten sie mich, denn ich war – hast Du es je bemerkt? – sehr sch"on. Verachtest [78] Du mich nun, weil ich Dir es verriet, dass ich mich verkauft habe? Nein, ich weiss, Du verachtest mich nicht, ich weiss, Du verstehst alles und wirst auch verstehen, dass ich es nur f"ur Dich getan, f"ur Dein anderes Ich, f"ur Dein Kind. Ich hatte einmal in jener Stube der Geb"arklinik an das Entsetzliche der Armut ger"uhrt, ich wusste, dass in dieser Welt der Arme immer der Getretene, das Opfer ist, und ich wollte nicht, um keinen Preis, dass Dein Kind, Dein helles, sch"ones Kind da tief unten aufwachsen sollte im Dumpfen, im Gemeinen der Gasse, in der verpesteten Luft eines Hinterhausraumes. Sein zarter Mund sollte nicht die Sprache des Rinnsteins [79] kennen – Dein Kind sollte alles haben, allen Reichtum, alle Leichtigkeit der Erde, es sollte wieder aufsteigen zu Dir, in Deine Sph"are des Lebens. Darum, nur darum, mein Geliebter, habe ich mich verkauft. Es war kein Opfer f"ur mich, denn was man gemeinhin Ehre und Schande nennt, das war mir wesenlos: Du liebtest mich nicht, Du, der Einzige, dem mein Leib geh"orte, so f"uhlte ich es als gleichg"ultig, was sonst mit meinem K"orper geschah. Alle M"anner die ich kannte, waren gut zu mir, alle haben mich verw"ohnt, alle achteten sie mich. Da war vor allem einer, ein "alterer, verwitweter Reichsgraf, derselbe, der sich die F"usse wundstand [80] an den T"uren, um die Aufnahme des vaterlosen Kindes, Deines Kindes, im Theresianum durchzudr"ucken – der liebte mich wie eine Tochter. Dreimal, viermal machte er mir den Antrag, mich zu heiraten – ich k"onnte heute Gr"afin sein, Herrin auf einem zauberischen Schloss in Tirol, k"onnte sorglos sein, denn das Kind h"atte einen z"artlichen Vater gehabt, der es verg"otterte, und ich einen stillen, vornehmen, g"utigen Mann an meiner Seite – ich habe es nicht getan, so sehr, so oft er auch dr"angte, so sehr ich ihm wehe tat mit meiner Weigerung [81] .

78

verachten – презирать

79

Rinnstein, m – сточная канава

80

wund – стёртый до крови

81

Weigerung, f – отказ, уклонение

Vielleicht war es eine Torheit [82] , denn sonst lebte ich jetzt irgendwo still und geborgen, und dies Kind, das geliebte, mit mir, aber – warum soll ich Dir es nicht gestehen – ich wollte mich nicht binden, ich wollte Dir frei sein in jeder Stunde. Innen im Tiefsten, im Unbewussten meines Wesens lebte noch immer der alte Kindertraum, Du w"urdest vielleicht noch einmal mich zu Dir rufen, sei es nur f"ur eine Stunde lang. Und f"ur diese eine m"ogliche Stunde habe ich alles weggestossen, nur um Dir frei zu sein f"ur Deinen ersten Ruf. Was war mein ganzes Leben seit dem Erwachen aus der Kindheit denn anders als ein Warten, ein Warten auf Deinen Willen!

82

Torheit, f – сумасбродство

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