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Письмо незнакомки / Brief einer Unbekannten
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Das war alles, Geliebter; aber von dieser Sekunde, seit ich diesen weichen, z"artlichen Blick gesp"urt, war ich Dir verfallen. Ich habe ja sp"ater erfahren, dass Du diesen Blick des geborenen Verf"uhrers, jeder Frau hingibst, die an Dich streift. Aber ich, das dreizehnj"ahrige Kind, ahnte das nicht: ich war wie in Feuer getaucht. Ich glaubte, die Z"artlichkeit gelte nur mir, nur mir allein, und in dieser einen Sekunde war die Frau in mir erwacht. „Wer war das?“ fragte meine Freundin. Ich konnte ihr nicht gleich antworten. Es war mir unm"oglich, Deinen Namen zu nennen: schon in dieser einzigen Sekunde war er mir heilig, war er mein

Geheimnis geworden. „Ach, irgendein Herr, der hier im Hause wohnt“, stammelte ich dann ungeschickt [22] heraus. „Aber warum bist du denn so rot geworden, wie er dich angeschaut hat?“ spottete [23] die Freundin mit eines neugierigen Kindes. Bl"ode Gans“, sagte ich wild. Aber sie lachte nur noch lauter, bis ich f"uhlte, dass mir die Tr"anen in die Augen schossen. Ich liess sie stehen und lief hinauf. Von dieser Sekunde an habe ich Dich geliebt.

22

ungeschickt –

неловкий, неуклюжий

23

spotten – насмехаться

Ich weiss, Frauen haben Dir oft dieses Wort gesagt. Aber glaube mir, niemand hat Dich so hingebungsvoll [24] geliebt wie dieses Wesen, das ich war. Nur einsame Kinder k"onnen ganz ihre Leidenschaft zusammenhalten [25] . Die andern spielen damit, wie mit einem Spielzeug, sie prahlen [26] damit, wie Knaben mit ihrer ersten Zigarette. Aber ich, ich hatte ja niemand, um mich anzuvertrauen: ich st"urzte hinein in mein Schicksal wie in einen Abgrund [27] . Alles, was in mir wuchs, wusste nur Dich, den Traum von Dir, als Vertrauten.

24

hingebungsvoll – беззаветный

25

Leidenschaft zusammenhalten – затаить в себе страсть

26

prahlen – хвастаться

27

Abgrund, m – пропасть

Mein Vater war l"angst gestorben, die Mutter mir fremd in ihrer ewige Bedr"ucktheit [28] , die Schulm"adchen stiessen mich ab, weil sie so leichtfertig [29] mit dem spielten, was mir letzte Leidenschaft war. Du warst mir – wie soll ich es Dir sagen? Jeder einzelne Vergleich ist zu gering – Du warst eben alles, mein ganzes Leben. Alles in meiner Existenz hatte nur Sinn, wenn es mit Dir verbunden war. Bisher mittelm"assig in der Schule, wurde ich pl"otzlich die Erste, ich las tausend B"ucher bis tief in die Nacht, weil ich wusste, dass Du die B"ucher liebtest, ich begann, zum Erstaunen meiner Mutter, pl"otzlich Klavier zu "uben, weil ich glaubte, Du liebtest Musik. Ich putzte und n"ahte an meinen Kleidern. Aber Du hast mich ja nie, fast nie mehr angesehen. Und doch: ich tat eigentlich den ganzen Tag nichts als auf Dich warten. An unserer T"ur war ein kleines Guckloch, durch dessen kreisrunden Ausschnitt man hin"uber auf Deine T"ur sehen konnte. Dieses Guckloch – nein, l"achle nicht, Geliebter, noch heute, noch heute sch"ame ich mich jener Stunden nicht! – war mein Auge in die Welt hinaus, dort, im eiskalten Vorzimmer. Ich war immer um Dich, immer in Spannung und Bewegung. Ich wusste alles von Dir, kannte jede Deiner Gewohnheiten, jede Deiner Krawatten, jeden Deiner Anz"uge.

28

Bedr"ucktheit, f – подавленность

29

leichtfertig – легкомысленно

Ich weiss, das sind alles kindische Torheiten, die ich Dir da erz"ahle. Aber ich sch"ame mich nicht, denn nie war meine Liebe zu Dir reiner und leidenschaftlicher als in diesen kindlichen Exzessen.

Aber ich will Dich nicht langweilen. Nur das sch"onste Erlebnis meiner Kindheit will ich Dir noch anvertrauen. An einem Sonntag muss es gewesen sein. Du warst verreist, und Dein Diener schleppte die schweren Teppiche, durch die offene Wohnungst"ur. Er trug schwer daran, der Gute, und in einem Anfall von Verwegenheit ging ich zu ihm und fragte, ob ich ihm nicht helfen k"onnte. Er war staunt, aber liess mich gew"ahren, und so sah ich Deine Wohnung von innen.

Diese Minute war die gl"ucklichste meiner Kindheit. Sie wollte ich Dir erz"ahlen, damit Du, der Du mich nicht kennst, endlich zu ahnen beginnst, wie ein Leben an Dir hing und verging. Ich merkte nicht, dass ein "alterer Herr, ein Kaufmann aus Innsbruck "ofter kam und l"anger blieb, ja, es war mir nur angenehm, denn er f"uhrte Mama manchmal in das Theater, und ich konnte allein bleiben, an Dich denken, was ja meine h"ochste, meine einzige Seligkeit [30] war.

30

Seligkeit, f – высшее счастье

Eines Tages nun rief mich die Mutter in ihr Zimmer; sie h"atte ernst mit mir zu sprechen. Ich wurde blass und h"orte mein Herz pl"otzlich h"ammern [31] : sollte sie etwas geahnt? Mein erster Gedanke warst Du, das Geheimnis, das mich mit der Welt verband. Aber die Mutter war selbst verlegen [32] , sie k"usste mich (was sie sonst nie tat), sie begann zu erz"ahlen, ihr Verwandter habe ihr einen Heiratsantrag gemacht, und sie sei entschlossen, ihn anzunehmen. Heisser stieg mir das Blut zum Herzen: nur ein Gedanke antwortete von innen, der Gedanke an Dich. „Aber wir bleiben doch hier?“ konnte ich gerade noch stammeln [33] . „Nein, wir ziehen nach Innsbruck, dort hat Ferdinand eine sch"one Villa.“ Mehr h"orte ich nicht. Mir ward schwarz vor den Augen. Sp"ater wusste ich, dass ich in Ohnmacht [34] gefallen war. Was dann in den n"achsten Tagen geschah, wie ich mich wehrte gegen ihren "uberm"achtigen Willen, das kann ich Dir nicht schildern [35] : noch jetzt zittert mir, da ich daran denke, die Hand im Schreiben. Mein wirkliches Geheimnis konnte ich nicht verraten.

31

h"ammern – колотиться

32

verlegen – смущённый

33

stammeln – запинаться

34

Ohnmacht, f – обморок

35

schildern – описать, изображать

Niemand sprach mehr mit mir, alles geschah hinterr"ucks. Man nutzte die Stunden, da ich in der Schule war, um die "Ubersiedlung zu f"ordern: kam ich dann nach Hause, so war immer wieder ein anderes St"uck verr"aumt oder verkauft. Ich sah, wie die Wohnung und damit mein Leben verfiel, und einmal, als ich zum Mittagessen kam, waren die M"obelpacker dagewesen und hatten alles weggeschleppt. In den leeren Zimmern standen die gepackten Koffer und zwei Feldbetten f"ur die Mutter und mich: da sollten wir noch eine Nacht schlafen, die letzte, und morgen nach Innsbruck reisen.

An diesem letzten Tag f"uhlte ich mit pl"otzlicher Entschlossenheit, dass ich nicht mehr leben konnte ohne Deine N"ahe. Wie ich mir es dachte und ob ich "uberhaupt klar in diesen Stunden der Verzweiflung [36] zu denken vermochte, das werde ich nie sagen k"onnen, aber pl"otzlich – die Mutter war fort – stand ich auf im Schulkleid, wie ich war, und ging hin"uber zu Dir. Nein, ich ging nicht: es stiess mich mit steifen Beinen, mit zitternden [37] Gelenken magnetisch fort zu Deiner T"ur. Ich sagte Dir schon, ich wusste nicht deutlich, was ich wollte: Dir zu F"ussen fallen [38] und Dich bitten, mich zu behalten als Magd, und ich f"urchte, Du wirst l"acheln "uber diesen unschuldigen Fanatismus einer F"unfzehnj"ahrigen, aber – Geliebter, Du w"urdest nicht mehr l"acheln, w"usstest Du, wie ich damals draussen im eiskalten Gange stand, starr vor Angst. Es war ein Kampf durch die Ewigkeit entsetzlicher Sekunden – den Finger auf den Knopf der T"urklingel dr"uckte.

36

Verzweiflung, f – отчаяние

37

zitternden – дрожащий

38

zu F"ussen fallen – упасть к ногам

Aber du kamst nicht. Niemand kam. Du warst offenbar fort an jenem Nachmittage und Johann auf Besorgung. Ich ging in unsere zerst"orte, ausger"aumte Wohnung zur"uck. Aber unter dieser Ersch"opfung [39] gl"uhte noch unverl"oscht die Entschlossenheit, Dich zu sehen, Dich zu sprechen, ehe sie mich wegrissen. Die ganze lange, entsetzliche Nacht habe ich dann, Geliebter, auf Dich gewartet. Kaum dass die Mutter sich in ihr Bett gelegt hatte und eingeschlafen war, schlich ich in das Vorzimmer hinaus, um zu horchen, wann Du nach Hause k"amest. Die ganze Nacht habe ich gewartet, und es war eine eisige Januarnacht. Ich war m"ude, meine Glieder schmerzten mich, und es war kein Sessel mehr, mich hinzusetzen: so legte ich mich flach auf den kalten Boden, "uber den der Zug von der T"ur hinstrich. Ich musste immer wieder aufstehen, so kalt war es im entsetzlichen Dunkel. Aber ich wartete, wartete, wartete auf Dich wie auf mein Schicksal. Endlich – es muss schon zwei oder drei Uhr morgens gewesen sein – h"orte ich unten das Haustor aufsperren und dann Schritte die Treppe hinauf. Warst Du es, der da kam? Ja, Du warst es, Geliebter – aber Du warst nicht allein. Du kamst mit einer Frau nach Hause… Wie ich diese Nacht "uberleben konnte, weiss ich nicht. Am n"achsten Morgen, um acht Uhr, schleppten sie mich nach Innsbruck.

39

Ersch"opfung, f – изнеможение

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