Россия и Запад
Шрифт:
Puschkin vermeidet "Uberschwang, "ubemimmt andererseits manches von seinen Vorg"angern Derzhavin und Zhukovskij. Von der Grossartigkeit der Natur des Kaukasus sind insbesondere Verse aus dem Prolog des «Gefangenen im Kaukasus» durchdrungen. Diese hat f"ur ihn jedoch zugleich Aspekte der D"usternis, ja einer latenten Bedrohlichkeit. In dem Poem ist sie Folie f"ur eine Handlung, in deren Mittelpunkt ein gequ"alter russischer Gefangener steht. Von poetischer Natur-Verkl"arung ist hier wenig zu sp"uren. Auch dem Bild des in der europ"aischen Aufkl"arung des 18. Jahrhunderts verehrten «edlen Wilden» kann Puschkin wenig Reiz abgewinnen. «Den wilden Tscherkessen sitzt der Schreck in den Gliedern», heisst es in einem Brief an den Bruder Lew vom 24.9.1820 [117] . Noch deutlicher wird er in der «Reise nach Arzrum»: «Der Mord ist ihnen (i.e. den Tscherkessen) nur eine einfache K"orperbewegung….Was soil man mit einem solchen Volk anfangen?» [118] . Entsprechend setzt sich in der
117
Puskin A.S. Polnoe Sobranie Socinenij v desjati tomach. Moskva, 1956–1958. V. IX. S. 17.
118
Ibid. V. VI. S. 648 («Putesestvie v Arzrum»).
Man hat bez"uglich der Kaukasus-Schilderungen in Puschkins Werk von der Sch"opfung eines «russischen Orientalismus» gesprochen, parallel zu einer zu gleicher Zeit in westeurop"aischen Literaturen gepflegten Manier, mit der das Gegenbild zu einer «verderbten» westeurop"aischen Kultur entworfen werden sollte [119] . F"ur Puschkin spielte jedoch ein anderer Bezugspunkt eine wichtigere Rolle: f"ur ihn war der Kaukasus in einem sehr konkreten zeitgeschichtlichen Sinn Schauplatz eines aktuellen Geschehens milit"arischer russischer Inbesitznahme, die er aus vollem Herzen begr"usste.
119
Dazu neuerdings: Schimmelpenninck van der Oye D. Russian Orientalism. Newhaven/London (Yale University Press), 2010.
Damit ist eine zweite Facette im Kaukasus-Bild Puschkins ber"uhrt, die ihn als politisch engagierten Zeitgenossen zeigt. Mit Begeisterung preist er die milit"arischen Eroberungen der russischen Zaren im Kaukasus und r"uhmt Heldentaten der sie betreibenden russischen Feldherren. Der Epilog des «Gefangenen im Kaukasus» — er entstand erst ein Jahr nach Beendigung seiner Kaukasus-Reise — ist daf"ur ein immer wieder zitierter Beleg. Puschkin besingt darin «jene ruhmreiche Stunde, als sich… auf dem unwirschen Kaukasus unser doppelk"opfiger Adler erhob» [120] . Es folgt ein Defilee russischer Heerf"uhrer mit der Beschworung des Generals Ermolov als Apotheose.
120
Puskin A.S. Polnoe Sobranie Socinenij v desjati tomach. V. IV. S. 130 («Kavkazskij Plennik»).
Die Vers-Erz"ahlung "uber den gefangenen Russen wird so in einen konkreten zeitgeschichtlichen Rahmen gestellt. In seiner Epoche hatte Puschkin wegen dieser patriotischen Verbr"amung wenig Kritik zu gew"artigen; seine Auffassung wurde ganz "uberwiegend geteilt. Zurechtgewiesen wurde er lediglich von seinem Schriftsteller-Freund Furst Vjazemskij mit Worten, die bis heute wenig an Aktualitat eingeb"usst haben:
Was sind Ermolov und Kotljarevskij schon f"ur Helden?… Von solchem Ruhm erstarrt einem das Blut in den Adern, und die Haare stehen einem zu Berge. Wenn wir den V"olkern Bildung beschert h"atten, dann g"abe es etwas zu besingen. Die Dichtung ist keine Bundesgenossin von Henkern [121] .
121
Zitiert nach: Gilel’son M.I. P. A. Vjazemskij. zizn’ i tvorcestvo. Leningrad, 1969. S. 77.
Heutige westliche Kommentatoren haben f"ur den Vorgang das Wort vom «russischen literarischen Imperialismus» gepr"agt [122] — ein Ph"anomen, das keinesfalls auf Puschkin beschr"ankt ist. Elogen auf die Waffentaten Ermolovs im Kaukasus findet man auch bei anderen russischen Schriftstellem der Zeit, so bei Puschkins Freund K"uchelbecker, bei Gribojedow, Lermontov, Bestuzhev-Marlinskij oder Denis Davydov [123] . Auch die Dekabristen fanden wenig an seinen kaukasischen Eroberer-Feldz"ugen auszusetzen; einer ihrer F"uhrer, Pavel Pestel, verfocht ein Konzept, nach dem man den Kaukasus in der Art Ermolovs r"ucksichtslos befrieden m"usse, notfalls auch durch Aussiedlung aufs"assiger Bev"olkerungsteile.
122
Hokanson. Op. cit. S. 336.
123
Markelov. Op. cit. S. 134 ff.
Puschkin blieb von der Gestalt Ermolovs fasziniert und plante einen Roman "uber den Kaukasus-Feldherm. Bei Lermontov, der ein "ahnliches Erz"ahl-Projekt verfolgte, tr"agt die Begeisterung f"ur Ermolov bereits Zuge einer Emiichterung: er plante eine Trilogie «aus dem kaukasischen Le-ben, mit dem Tiflis unter Ermolov, seiner Diktaturund seiner grausamen Unterwerfung des Kaukasus…» [124] . Als Puschkin sich 1829 auf die Reise nach Arzrum begab, stattete er dem inzwischen "ungnadig aus dem Dienst entlassenen Feldherm in Orel einen Besuch ab, der im Einf"uhrungsteil der «Reise» beschrieben wird. Nach wie vor empfmdet Puschkin darin Hochachtung f"ur die Leistung des Generals.
124
Ibid. S. 136.
Puschkins imperiale Phantasie l"asst ihn in eine k"unftige Epoche schweifen, in der er Russland "uber den Kaukasus hinaus bis nach Indien vordringen sieht, wie dies in seinem Brief an den Bruder Lew vom 24.9.1820 anklingt. Er mag hier auch unter dem Einfluss von Ideen stehen, die sein Freund Gribojedow ihm vermittelt haben k"onnte. Dieser war seit einer ersten Reise in die Region im Jahre 1818 f"ur den Kaukasus engagiert. Als Verfasser einer Denkschrift "uber die Einrichtung einer transkaukasischen Kompagnie hat Gribojedow die russische Kolonisierung auch in eine ganz konkrete Richtung voranzutreiben versucht. Wie er ist Puschkin von der zivilisatorischen Mission Russlands zutiefst "uberzeugt. Schon der «Gefangene im Kaukasus» enthielt die Aussage, dass die Tscherkessen, ein Topos f"ur die Kaukasus-V"olker insgesamt, reif f"ur die milit"arische und kulturelle Bezwingung durch Russland seien. In der «Reise nach Arzrum» bringt er dies auf einen simplen Nenner: Samovar und Orthodoxie. «Es gibt noch ein Mittel, das st"arker und sittlicher ist und mehr unserem aufgekl"arten Jahrhundert entspricht: Die Verk"undigung des Evangeliums» [125] .
125
Wie Anm. 4.
Dass Puschkin in der Eroberung des Kaukasus durch Russland den Triumph einer "uberlegenen europ"aisch-christlichen Zivilisation sieht, kommt auch in dem unvollendet gebliebenen Poem «Tazit» aus den Jahren 1829/30 zum Ausdruck. Seine Hauptgestalt, der Tschetschene Tazit, sollte gem"ass Puschkins Planskizze zum Christentum konvertieren und dann auf russischer Seite f"ur die Eroberung des Kaukasus ins Feld ziehen.
Lermontov, der als poetischer Herold des Kaukasus nur wenig sp"ater in Puschkins Fussstapfen tritt, entdeckt bereits fragw"urdige Aspekte in einer Missionierung des Kaukasus durch Russland. Der Kaukasus ist ihm Zufluchtsort vor dem «ungewaschenen Russland», wie er dies in einem ber"uhmten Gedicht von 1841 ausdr"uckt. Zugleich durchschaut er, der an Feldz"ugen vor Ort teilnimmt, die ganze Brutalit"at des Kriegsgeschehens. Die «Asiaten», wie er die Gegner nennt, finden zwar wenig Mitgef"uhl vor seinen Augen, aber von einem Aufruf zur Mission ist nicht mehr die Rede.
Vor allem zwischen 1820 und 1840 nimmt das Kaukasus-Paradigma in der russischen Literatur einen auff"alligen Platz ein. Spektakul"are Popul"arity erreichte in den 1830er Jahren Alexander Bestuzhev-Marlinskij mit seinen farbigen Romanen aus dem Kaukasus-Milieu. Lermontovs «Held unserer Zeit» variiert das gleiche Thema. Der einflussreiche Kritiker Belinskij, der 1837 in nordkaukasischen B"adern kurte, kommentierte die durch Puschkin geschaffene literarische Modewelle zu Kaukasus-Motiven; er zeigt sich beeindruckt von ihrer Frische und Originalit"at.
Den Akzent f"ur die literarische Behandlung des Sujets setzte Puschkin durch seinen «Gefangenen im Kaukasus». Die erz"ahlerische Seite ist darin eng verwoben mit Aspekten eines imperial motivierten russischen Patriotismus. Dass Puschkin — im Gegensatz zu dem ihn kritisierenden Vjazemskij — nie die Gelegenheit hatte, nach Westeuropa zu reisen, und in seinem Erlebnishorizont auf das «unermessliche Russland» beschr"ankt blieb, mag dabei seine Optik wesentlich mit bestimmt haben. Schon w"ahrend seiner Verbannung im moldauischen Kischinjov hatte er dem milit"arischen Einsatz zum Ruhme der russischen Orthodoxie gegen den muslimischen Feind entgegengefiebert. Wenige Jahre sp"ater zeigte er offene Sympathien f"ur die Niederschlagung des polnischen Aufstandes 1830/31, bei dem der von ihm wegen seiner Taten im Kaukasus bewunderte General Paskevitsch eine Schl"usselrolle spielte. Ausdruck dieser Sympathie ist das Gedicht «An die Verleumder Russlands» von 1830, bemerkenswerterweise das meist"ubersetzte Gedicht Puschkins ins Deutsche "uber das gesamte 19. Jahrhundert. In dem 1831 entstandenen Gedicht «Jahrestag von Borodino» besingt Puschkin in patriotischem Geist die Einnahme Warschaus durch Paskevitsch und erinnert sich dabei lebhaft vorausgegangener Eroberungstaten des Generals im Kaukasus.