1924 Голодарь (сборник)
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Es ist aber eben doch nicht nur Pfeifen, was sie produziert. Stellt man sich recht weit von ihr hin und horcht, oder noch besser, l"asst man sich in dieser Hinsicht pr"ufen, singt also Josefine etwa unter andern Stimmen und setzt man sich die Aufgabe, ihre Stimme zu erkennen, dann wird man unweigerlich nichts anderes heraush"oren, als ein gew"ohnliches, h"ochstens durch Zartheit oder Schw"ache ein wenig auffallendes Pfeifen. Aber steht man vor ihr, ist es doch nicht nur ein Pfeifen; es ist zum Verst"andnis ihrer Kunst notwendig, sie nicht nur zu h"oren sondern auch zu sehn. Selbst wenn es nur unser tagt"agliches Pfeifen w"are, so besteht hier doch schon zun"achst die Sonderbarkeit, dass jemand sich feierlich hinstellt, um nichts anderes als das "Ubliche zu tun. Eine Nuss aufknacken ist wahrhaftig keine Kunst, deshalb wird es auch niemand wagen, ein Publikum zusammenzurufen und vor ihm, um es zu unterhalten, N"usse knacken. Tut er es dennoch und gelingt seine Absicht, dann kann es sich eben doch nicht nur um blosses N"usseknacken handeln. Oder es handelt sich um N"usseknacken, aber es stellt sich heraus, dass wir "uber diese Kunst hinweggesehen haben, weil wir sie glatt beherrschten und dass uns dieser neue Nussknacker erst ihr eigentliches Wesen zeigt, wobei es dann f"ur die Wirkung sogar n"utzlich sein k"onnte, wenn er etwas weniger t"uchtig im N"usseknacken ist als die Mehrzahl von uns.
Vielleicht verh"alt es sich "ahnlich mit Josefinens Gesang; wir bewundern an ihr das, was wir an uns gar nicht bewundern; "ubrigens stimmt sie in letzterer Hinsicht mit uns v"ollig "uberein. Ich war einmal zugegen, als sie jemand, wie dies nat"urlich "ofters geschieht, auf das allgemeine Volkspfeifen aufmerksam machte und zwar nur ganz bescheiden, aber f"ur Josefine war es schon zu viel. Ein so freches, hochm"utiges L"acheln, wie sie es damals aufsetzte, habe ich noch nicht gesehn; sie, die "ausserlich eigentlich vollendete Zartheit ist, auffallend zart selbst in unserem an solchen Frauengestalten reichen Volk, erschien damals geradezu gemein; sie mochte es "ubrigens in ihrer grossen Empfindlichkeit auch gleich selbst f"uhlen und fasste sich. Jedenfalls leugnet sie also jeden Zusammenhang zwischen ihrer Kunst und dem Pfeifen. F"ur die, welche gegenteiliger Meinung sind, hat sie nur Verachtung und wahrscheinlich uneingestandenen Hass. Das ist nicht gew"ohnliche Eitelkeit, denn diese Opposition, zu der auch ich halb geh"ore, bewundert sie gewiss nicht weniger als es die Menge tut, aber Josefine will nicht nur bewundert, sondern genau in der von ihr bestimmten Art bewundert sein, an Bewunderung allein liegt ihr nichts. Und wenn man vor ihr sitzt, versteht man sie; Opposition treibt man nur in der Ferne; wenn man vor ihr sitzt, weiss man: was sie hier pfeift, ist kein Pfeifen.
Da Pfeifen zu unseren gedankenlosen Gewohnheiten geh"ort, k"onnte man meinen, dass auch in Josefinens Auditorium gepfiffen wird; es wird uns wohl bei ihrer Kunst und wenn uns wohl ist, pfeifen wir; aber ihr Auditorium pfeift nicht, es ist m"auschenstill, so als w"aren wir des ersehnten Friedens teilhaftig geworden, von dem uns zumindest unser eigenes Pfeifen abh"alt, schweigen wir. Ist es ihr Gesang, der uns entz"uckt oder nicht vielmehr die feierliche Stille, von der das schwache Stimmchen umgeben ist? Einmal geschah es, dass irgendein t"orichtes kleines Ding w"ahrend Josefinens Gesang in aller Unschuld auch zu pfeifen anfing. Nun, es war ganz dasselbe, was wir auch von Josefine h"orten; dort vorne das trotz aller Routine immer noch sch"uchterne Pfeifen und hier im Publikum das selbstvergessene kindliche Gepfeife; den Unterschied zu bezeichnen, w"are unm"oglich gewesen; aber doch zischten und pfiffen wir gleich die St"orerin nieder, trotzdem es gar nicht n"otig gewesen w"are, denn sie h"atte sich gewiss auch sonst in Angst und Scham verkrochen, w"ahrend Josefine ihr Triumphpfeifen anstimmte und ganz ausser sich war mit ihren ausgespreizten Armen und dem gar nicht mehr h"oher dehnbaren Hals.
So ist sie "ubrigens immer, jede Kleinigkeit, jeden Zufall, jede Widerspenstigkeit, ein Knacken im Parkett, ein Z"ahneknirschen, eine Beleuchtungsst"orung h"alt sie f"ur geeignet, die Wirkung ihres Gesanges zu erh"ohen; sie singt ja ihrer Meinung nach vor tauben Ohren; an Begeisterung und Beifall fehlt es nicht, aber auf wirkliches Verst"andnis, wie sie es meint, hat sie l"angst verzichten gelernt. Da kommen ihr denn alle St"orungen sehr gelegen; alles, was sich von aussen her der Reinheit ihres Gesanges entgegenstellt, in leichtem Kampf, ja ohne Kampf, bloss durch die Gegen"uberstellung besiegt wird, kann dazu beitragen, die Menge zu erwecken, sie zwar nicht Verst"andnis, aber ahnungsvollen Respekt zu lehren.
Wenn ihr aber nun das Kleine so dient, wie erst das Grosse. Unser Leben ist sehr unruhig, jeder Tag bringt "Uberraschungen, Be"angstigungen, Hoffnungen und Schrecken, dass der Einzelne unm"oglich dies alles ertragen k"onnte, h"atte er nicht jederzeit bei Tag und Nacht den R"uckhalt der Genossen; aber selbst so wird es oft recht schwer; manchmal zittern selbst tausend Schultern unter der Last, die eigentlich nur f"ur einen bestimmt war. Dann h"alt Josefine ihre Zeit f"ur gekommen. Schon steht sie da, das zarte Wesen, besonders unterhalb der Brust be"angstigend vibrierend, es ist, als h"atte sie alle ihre Kraft im Gesang versammelt, als sei allem an ihr, was nicht dem Gesange unmittelbar diene, jede Kraft, fast jede Lebensm"oglichkeit entzogen, als sei sie entbl"osst, preisgegeben, nur dem Schutze guter Geister "uberantwortet, als k"onne sie, w"ahrend sie so, sich v"ollig entzogen, im Gesange wohnt, ein kalter Hauch im Vor"uberwehn t"oten. Aber gerade bei solchem Anblick pflegen wir angeblichen Gegner uns zu sagen: "Sie kann nicht einmal pfeifen; so entsetzlich muss sie sich anstrengen, um nicht Gesang – reden wir nicht von Gesang – aber um das landes"ubliche Pfeifen einigermassen sich abzuzwingen. " So scheint es uns, doch ist dies, wie erw"ahnt, ein zwar unvermeidlicher, aber fl"uchtiger, schnell vor"ubergehender Eindruck. Schon tauchen auch wir in das Gef"uhl der Menge, die warm, Leib an Leib, scheu atmend horcht.
Und um diese Menge unseres fast immer in Bewegung befindlichen, wegen oft nicht sehr klarer Zwecke hin- und herschiessenden Volkes um sich zu versammeln, muss Josefine meist nichts anderes tun, als mit zur"uckgelegtem K"opfchen, halboffenem Mund, der H"ohe zugewandten Augen jene Stellung einnehmen, die darauf hindeutet, dass sie zu singen beabsichtigt. Sie kann dies tun, wo sie will, es muss kein weithin sichtbarer Platz sein, irgendein verborgener, in zuf"alliger Augenblickslaune gew"ahlter Winkel ist ebensogut brauchbar. Die Nachricht, dass sie singen will, verbreitet sich gleich, und bald zieht es in Prozessionen hin. Nun, manchmal treten doch Hindernisse ein, Josefine singt mit Vorliebe gerade in aufgeregten Zeiten, vielfache Sorgen und N"ote zwingen uns dann zu vielerlei Wegen, man kann sich beim besten Willen nicht so schnell versammeln, wie es Josefine w"unscht, und sie steht dort diesmal in ihrer grossen Haltung vielleicht eine Zeitlang ohne gen"ugende H"orerzahl – dann freilich wird sie w"utend, dann stampft sie mit den F"ussen, flucht ganz unm"adchenhaft, ja sie beisst sogar. Aber selbst ein solches Verhalten schadet ihrem Rufe nicht; statt ihre "ubergrossen Anspr"uche ein wenig einzud"ammen, strengt man sich an, ihnen zu entsprechen; es werden Boten ausgeschickt, um H"orer herbeizuholen; es wird vor ihr geheim gehalten, dass das geschieht; man sieht dann auf den Wegen im Umkreis Posten aufgestellt, die den Herankommenden zuwinken, sie m"ochten sich beeilen; dies alles so lange, bis dann schliesslich doch eine leidliche Anzahl beisammen ist.
Was treibt das Volk dazu, sich f"ur Josefine so zu bem"uhen? Eine Frage, nicht leichter zu beantworten als die nach Josefinens Gesang, mit der sie ja auch zusammenh"angt. Man k"onnte sie streichen und g"anzlich mit der zweiten Frage vereinigen, wenn sich etwa behaupten liesse, dass das Volk wegen des Gesanges Josefine bedingungslos ergeben ist. Dies ist aber eben nicht der Fall; bedingungslose Ergebenheit kennt unser Volk kaum; dieses Volk, das "uber alles die freilich harmlose Schlauheit liebt, das kindliche Wispern, den freilich unschuldigen, bloss die Lippen bewegenden Tratsch, ein solches Volk kann immerhin nicht bedingungslos sich hingeben, das f"uhlt wohl auch Josefine, das ist es, was sie bek"ampft mit aller Anstrengung ihrer schwachen Kehle.
Nur darf man freilich bei solchen allgemeinen Urteilen nicht zu weit gehn, das Volk ist Josefine doch ergeben, nur nicht bedingungslos. Es w"are z. B. nicht f"ahig, "uber Josefine zu lachen. Man kann es sich eingestehn: an Josefine fordert manches zum Lachen auf; und an und f"ur sich ist uns das Lachen immer nah; trotz allem Jammer unseres Lebens ist ein leises Lachen bei uns gewissermassen immer zu Hause; aber "uber Josefine lachen wir nicht. Manchmal habe ich den Eindruck, das Volk fasse sein Verh"altnis zu Josefine derart auf, dass sie, dieses zerbrechliche, schonungsbed"urftige, irgendwie ausgezeichnete, ihrer Meinung nach durch Gesang ausgezeichnete Wesen ihm anvertraut sei und es m"usse f"ur sie sorgen; der Grund dessen ist niemandem klar, nur die Tatsache scheint festzustehn. "Uber das aber, was einem anvertraut ist, lacht man nicht; dar"uber zu lachen, w"are Pflichtverletzung; es ist das "Ausserste an Boshaftigkeit, was die Boshaftesten unter uns Josefine zuf"ugen, wenn sie manchmal sagen: "Das Lachen vergeht uns, wenn wir Josefine sehn. "
So sorgt also das Volk f"ur Josefine in der Art eines Vaters, der sich eines Kindes annimmt, das sein H"andchen – man weiss nicht recht, ob bittend oder fordernd – nach ihm ausstreckt. Man sollte meinen, unser Volk tauge nicht zur Erf"ullung solcher v"aterlicher Pflichten, aber in Wirklichkeit versieht es sie, wenigstens in diesem Falle, musterhaft; kein Einzelner k"onnte es, was in dieser Hinsicht das Volk als Ganzes zu tun imstande ist. Freilich, der Kraftunterschied zwischen dem Volk und dem Einzelnen ist so ungeheuer, es gen"ugt, dass es den Sch"utzling in die W"arme seiner N"ahe zieht, und er ist besch"utzt genug. Zu Josefine wagt man allerdings von solchen Dingen nicht zu reden. "Ich pfeife auf eueren Schutz", sagt sie dann. "Ja, ja, du pfeifst", denken wir. Und ausserdem ist es wahrhaftig keine Widerlegung, wenn sie rebelliert, vielmehr ist das durchaus Kindesart und Kindesdankbarkeit, und Art des Vaters ist es, sich nicht daran zu kehren.
Nun spricht aber doch noch anderes mit herein, das schwerer aus diesem Verh"altnis zwischen Volk und Josefine zu erkl"aren ist. Josefine ist n"amlich der gegenteiligen Meinung, sie glaubt, sie sei es, die das Volk besch"utze. Aus schlimmer politischer oder wirtschaftlicher Lage rettet uns angeblich ihr Gesang, nichts weniger als das bringt er zuwege, und wenn er das Ungl"uck nicht vertreibt, so gibt er uns wenigstens die Kraft, es zu ertragen. Sie spricht es nicht so aus und auch nicht anders, sie spricht "uberhaupt wenig, sie ist schweigsam unter den Plapperm"aulern, aber aus ihren Augen blitzt es, von ihrem geschlossenen Mund – bei uns k"onnen nur wenige den Mund geschlossen halten, sie kann es – ist es abzulesen. Bei jeder schlechten Nachricht – und an manchen Tagen "uberrennen sie einander, falsche und halbrichtige darunter – erhebt sie sich sofort, w"ahrend es sie sonst m"ude zu Boden zieht, erhebt sich und streckt den Hals und sucht den "Uberblick "uber ihre Herde wie der Hirt vor dem Gewitter. Gewiss, auch Kinder stellen "ahnliche Forderungen in ihrer wilden, unbeherrschten Art, aber bei Josefine sind sie doch nicht so unbegr"undet wie bei jenen. Freilich, sie rettet uns nicht und gibt uns keine Kr"afte, es ist leicht, sich als Retter dieses Volkes aufzuspielen, das leidensgewohnt, sich nicht schonend, schnell in Entschl"ussen, den Tod wohl kennend, nur dem Anscheine nach "angstlich in der Atmosph"are von Tollk"uhnheit, in der es st"andig lebt, und "uberdies ebenso fruchtbar wie wagemutig – es ist leicht, sage ich, sich nachtr"aglich als Retter dieses Volkes aufzuspielen, das sich noch immer irgendwie selbst gerettet hat, sei es auch unter Opfern, "uber die der Geschichtsforscher – im allgemeinen vernachl"assigen wir Geschichtsforschung g"anzlich – vor Schrecken erstarrt. Und doch ist es wahr, dass wir gerade in Notlagen noch besser als sonst auf Josefinens Stimme horchen. Die Drohungen, die "uber uns stehen, machen uns stiller, bescheidener, f"ur Josefinens Befehlshaberei gef"ugiger; gern kommen wir zusammen, gern dr"angen wir uns aneinander, besonders weil es bei einem Anlass geschieht, der ganz abseits liegt von der qu"alenden Hauptsache; es ist, als tr"anken wir noch schnell – ja, Eile ist n"otig, das vergisst Josefine allzuoft – gemeinsam einen Becher des Friedens vor dem Kampf. Es ist nicht so sehr eine Gesangsvorf"uhrung als vielmehr eine Volksversammlung, und zwar eine Versammlung, bei der es bis auf das kleine Pfeifen vorne v"ollig still ist; viel zu ernst ist die Stunde, als dass man sie verschw"atzen wollte.