Русская германистика. Ежегодник Российского союза германистов. Т. 15. Революция и эволюция в немецкоязычных литературах
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Seit dem Ende des 17. Jahrhunderts finden sich Begriffsverwendungen, die die englische und spanische Variet"at von ‚Revolution‘ mit geschichtlichen Ereignissen in Verbindung bringen. Ein fr"uher Beleg f"ur ‚glorious revolution‘ stammt von 1696 [vgl. Beverley 1696]. Doch erhielt die englische Revolution von 1688 gerade deshalb das Epitheton ‚glorious‘, weil sie eben nicht ‚revolution"ar‘ im heutigen Sinne, also nicht schlagartig, gewaltsam oder gar blutig verlief. Revolution"ar wurde der Begriffsinhalt von ‚Revolution‘ erst am Ende des 18. Jahrhunderts im Kontext der Franz"osischen Revolution und meinte nunmehr ‚gewaltsamer, totaler Umsturz‘, ‚Staatsumw"alzung‘, ‚pl"otzlicher Bruch mit Tradition und Geschichte‘. Friedrich Schlegel gilt 1798 die Franz"osische Revolution in den Athenaeums-Fragmenten als „Urbild der Revoluzionen“. Die moderne Wortbedeutung war im Deutschen von Anfang an h"aufig pejorativ besetzt und wurde von ‚Evolution‘ in positiver Bedeutung abgesetzt. Herder formulierte 1793 in den Briefen zur Bef"orderung der Humanit"at: „Mein Wahlspruch bleibt also fortgehende, nat"urliche, vern"unftige Evolution der Dinge, keine Revolution.“ "Ahnlich Immanuel Kant 1798 in Der Streit der Fakult"aten: „dass der Staat sich von Zeit zu Zeit auch selbst refomiere und anstatt Revolution Evolution versuchend, zum besseren gest"andig fortschreite“.
Mit dem Begriff ‚Revolution‘ im modernen Sinne verbindet sich also kein aus ideengeschichtlicher Tradition abgeleitetes Deutungskonzept. Der Begriff reagiert auf die aktuelle Zeitgeschichte, ist als solcher deskriptiv, nicht interpretierend, auch wenn sich unterschiedliche Wertungstendenzen damit verbinden k"onnen.
Ganz anders nimmt sich die Begriffsgeschichte von ‚Evolution‘ aus [vgl. DFWB22004, V/350–357]. Der etymologische Kern, das lateinische ‚evolutio‘ von ‚evolvere‘, meint zun"achst konkret das Auseinanderrollen einer Schriftrolle, "ubertragen dann das Ausrollen und allm"ahliche Entfalten, Entwickeln einer Sache, auch deren Erforschen. Zwar bezeichnete auch das deutsche Fremdwort im 17. und 18. Jahrhundert die Ver"anderung von Truppenteilen, doch blieb das ein Randaspekt der Begriffsgeschichte. Dominant wird vielmehr der Aspekt der nat"urlichen, pr"aformierten Entwicklung in der langen Dauer: Biologisch geht es um die Entfaltung des im Samen oder Keim Angelegten in der voll entwikkelten Pflanze; medizinisch um die Entwicklung vom Embryo zum entwickelten Menschen. In diesem Sinne verbindet sich ‚Evolution‘ mit den Nebenbedeutungen des Organischen und Nat"urlichen. Goethes Begriffe der ‚Metamorphose‘ und der ‚Entelechie‘ stehen deutlich in dieser Begriffstradition.
Unter dem Einfluss von Charles Darwins On the Origin of Species von 1859 tritt der Begriff aus der Sph"are der Individualgeschichte in die Menschheitsgeschichte "uber, aus der Ontogenese in die Phylogenese. ‚Evolution‘ meint hier die ‚stammesgeschichtliche Entwicklung der Lebewesen von niederen zu h"oheren Formen‘, mithin eine Entwicklung, der eine spezifische Logik zugrunde liegt, n"amlich die des linearen Aufstiegs, des Fortschritts.
Eine solche Entwicklungslogik hatte bereits die fr"uhe Geschichtsphilosophie der Aufkl"arung der Entwicklung des Menschengeschlechts unterlegt, und zwar als Prinzip der Vervollkommnung, der Perfektibilit"at in teleologischer Auslegung. Dieser Hintergrund er"offnet die M"oglichkeit der "Ubertragung von ‚Evolution‘ im vordarwinistischen und dann im darwinistischen Sinne auf die Bereiche von Kultur, Gesellschaft und Geschichte. Ein langsames, bruchloses und vor allem lange w"ahrendes Sich-Entfalten liess sich schon im 18. und dann darwinistisch modifiziert seit der zweiten H"alfte des 19. Jahrhunderts als ‚Evolution‘ beschreiben. Erst in dieser Sph"are und dieser Bedeutung tritt ‚Evolution‘ in Opposition zu ‚Revolution‘, wie wir bereits gesehen haben. Nach der Oktoberrevolution in Russland und der Novemberrevolution in Deutschland erkl"arte Gustav Stresemann 1919 in seiner Redensammlung Von der Revolution bis zum Frieden von Versailles: „die entwicklung zum besseren [durfte] nur den weg der evolution, niemals den weg der revolution gehen“.
In der Geschichte beider Begriffe f"allt auf, dass ‚Revolution‘ wie ‚Evolution‘ ihre modernen Begriffsinhalte im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts erhalten, also in der Phase, die die Bielefelder Historikerschule um Reinhart Koselleck als die „Sattelzeit“ um 1800 beschrieben hat, in der vormoderne in moderne Gesellschaftsformen "ubergehen. Die Modernit"at beider Begriffe – und das ist entscheidend – stellt sich aber ganz unterschiedlich dar. ‚Revolution‘ ist insofern wahrhaft modern, als der Begriff eigentlich eine Leerstelle bezeichnet, die dort entsteht, wo alte metaphysisch-ontologische Deutungsschemata nicht mehr greifen. Das Erdbeben von Lissabon 1755 war noch metaphysisch-theologisch interpretierbar gewesen, ja das Ereignis befeuerte geradezu die philosophische Diskussion: Die Theodizee-Frage wurde neu diskutiert; Voltaire verspottete Leibniz und sein Theorem der „besten aller m"oglichen Welten“; Rousseau und Voltaire stritten "uber den Optimismus et cetera. Die Franz"osische Revolution hingegen fand statt am Ende des Jahrhunderts der Aufkl"arung, das fortw"ahrend Metaphysikkritik unter dem Label der Vorurteilskritik betrieben hatte. Die sich brachial in der Tagespolitik entladende Gewalt war 1789 weder in die theologische Providentia-Lehre, also in den weisen Plan Gottes, noch in ein geschichtsphilosophisches Fortschritts- oder Perfektibilit"atsmodell zu integrieren. Im Gegenteil: Geschichtsphilosophie musste erst neu erfunden oder vom idealistischen Kopf auf die materialistischen F"usse gestellt werden, um Revolutionen sinnstiftend in eine neue metaphysische Ersatzreligion integrieren zu k"onnen. Zusammenfassend: Im Umfeld von 1789 meinte ‚Revolution‘ das aus jeder Ordnung Herausfallende, sich jeder Sinnstiftung Entziehende – und war in diesem Sinne geradezu dekonstruktivistisch modern.
‚Evolution‘ hingegen geh"ort zu jenen in der Sattelzeit neu entstehenden Begriffen, die die Last der metaphysisch-ontologischen Tradition, die man eigentlich abwerfen wollte, in einem modernen Begriffsdesign fortschrieben. ‚Entwicklung‘ und ‚Entfaltung‘ sind ohne metaphysische Fundamentalannahmen gar nicht denkbar. Was sich entwickeln, entfalten soll, muss der Essenz nach bereits wesenhaft vorhanden sein, wie Sartre gesagt h"atte. Das gilt f"ur den Samen der Pflanze wie f"ur die Individualit"at des Individuums. Der Keim tr"agt bereits das Programm, nur blendet die Moderne die alten Fragen aus, wer dieses Programm dort eingeschrieben hat und zu welchem Zweck, nach welchem Plan.
Im Bereich der Geschichtsphilosophie l"asst sich kurz zeigen, dass mit der Wahl zwischen den Prinzipien von ‚Revolution‘ und ‚Evolution‘ auch in der Moderne g"anzlich unterschiedliche Weltzug"ange oder Weltdeutungsmuster verbunden sind. Wir wenden uns zur Verdeutlichung Goethe zu:
es liegt nun einmal in meiner Natur, ich will lieber eine Ungerechtigkeit begehen, als Unordnung ertragen [Goethe 1987, I/33: 315].
Zuletzt hat Gustav Seibt [2014] in seinem Buch Goethe in der Revolution alle historischen Bez"uge entfaltet, die diesem ber"uhmten Diktum aus Goethes Belagerung von Mainz eingeschrieben sind. Genau betrachtet, betrifft jedoch vor allem der erste Teil, das Begehen einer Ungerechtigkeit, die Sph"are des Geschichtlichen oder Politischen, die Goethe als nicht mehr steuerbaren Ausbruch von Partikularinteressen, als W"uten individueller Egoismen und demagogisch verf"uhrter K"opfe auffasste; dort konnte, ja musste „Ungerechtigkeit“ geschehen. Der zweite Teil aber, die Nichtanerkennung von „Unordnung“, meint hingegen das "Ubergeschichtliche, die alles durchdringende Ordnungsstruktur der Welt oder der „Natur“, deren gesicherte Existenz Goethe unter gar keinen Umst"anden ableugnen wollte.
Diese Ordnungsstruktur der Natur war in der Vormoderne immer auf ihren Sch"opfer zur"uckgef"uhrt worden, ganz egal ob man Gott als grossen Baumeister und Ingenieur verehrte – man denke an die Uhr im Strassburger M"unster – oder sich in der Physikotheologie dem „irdischen Vergn"ugen in Gott“ [vgl. Brockes 1721–48] hingab, indem man die Natur als zweites Buch Gottes las. Die moderne Reformulierung dieses Problems lernten Goethe wie seine Zeitgenossen von Spinoza, der in seiner Formel „deus sive natura“ Gott in ein philosophisches Prinzip verwandelte, in die wirkende Kraft in der Natur, die „natura naturans“. Ihre vormodern-metaphysische Problemlast hatten diese neuen Begriffe keineswegs abgeworfen, doch versprach ihr modernes Design, die alten metaphysischen Fragen wenigstens verschatten zu k"onnen. Das war die Art protestantischer ‚Privatreligion‘ (Goethes eigener Begriff: „Christenthum zu meinem Privatgebrauch“ [Goethe 1987, I/28: 306]), die schon Lessing f"ur sich in Anspruch genommen hatte, als der das anthropomorphe Wesen, das im Himmel s"asse und auf die Menschlein herabs"ahe, als religi"ose Zumutung abwies. Identifizieren konnte er sich hingegen mit Spinozas philosophischer Schwundstufe, mit einem Numinosen als wirkender Kraft, und meinte, damit auf dem Weg der Selbstbeschreibung der Vernunft im Projekt der Aufkl"arung einen grossen Schritt weitergekommen zu sein. Auch f"ur Goethe bleibt dieses salonf"ahige Numinose Spinozas letzter Garant einer Ordnungsstruktur in der Natur, ohne die ‚Evolution‘ nicht denkbar w"are.
Selbst der grosse Antimetaphysiker Immanuel Kant, der meinte, dass die Ordnung der Welt gar nicht Gegenstand der Philosophie sein k"onne, da uns das Ding an sich nicht zug"anglich sei, und Philosophie sich stattdessen mit der Ordnung unseres Denkens besch"aftigen m"usse, beh"alt denselben d"unnen Halm in der Hand. Denn auch er stand vor dem Problem, warum diese Ordnung des Denkens irgendwie relevant sein soll f"ur die Erkenntnis der Ordnung der Dinge, der Ordnung des Seins. Taugt Philosophie nach der kopernikanischen Wende "uberhaupt noch zu irgendetwas – ausser dazu, sich mit sich selbst zu besch"aftigen? Den Preis einer verneinenden Antwort will Kant nat"urlich nicht zahlen, und so behauptet auch er – ganz in theologisch-metaphysischer Tradition – eine Korrespondenz zwischen der Ordnung des Denkens und der Ordnung des Seins. Aber wer h"atte diese gestiftet? An seiner Antwort in der Kritik der reinen Vernunft ist das Gequ"alte nicht zu "ubersehen: Er komme nicht umhin, die „Idee einer h"ochsten und schlechthin notwendigen Vollkommenheit eines Urwesens [anzuerkennen], welches der Ursprung aller Kausalit"at ist“ [Kant 1998, II/599] und somit den „Grund der Weltordnung und ihres Zusammenhanges nach allgemeinen Gesetzen enthalte“ [Kant 1998, II/600]. Nur nennt er diesen „Urgrund“ nicht mehr vormodern ‚Gott‘, sondern modern „intellectus archetypus“ [Kant 1998, II/600], womit wir einen weiteren Begriff aus der Sattelzeit haben, der vormoderne Metaphysik nicht abwirft, sondern lediglich in modernem Begriffsdesign verschattet.
Exakt dieser Befund gilt auch f"ur den ‚Evolutions‘-Begriff in der modernen Literaturgeschichtsschreibung und Literaturwissenschaft. Doch auf dem Weg zu Veselovskij, Curtius und Ejchenbaum bedarf es noch einer Zwischenstation.
Der gr"ossere Bruder des ‚Evolutions‘-Begriffs ist das philosophische Konzept des Holismus. Entsprechend nannte Jan Christian Smuts sein 1924 erschienenes Hauptwerk Holism and Evolution. Danach meint ‚Holismus‘ die Grundauffassung, dass „alle Daseinsformen […] danach streben, Ganze zu sein“ [zit. n. Goerdt 1974: 1167]. Und dieses ‚Ganze‘ ist mehr als die Summe seiner Teile, ihm eignet vielmehr eine eigene Qualit"at. Der Zusammenhang mit ‚Evolution‘ im Sinne von ‚Entfaltung‘, ‚Entwicklung‘ ist ein logischer: Ohne den holistischen "Uberbau k"onnte man nur ‚Ver"anderung‘ feststellen; ‚Evolution‘ aber ist ein substantialistischer Begriff, der die Ver"anderung in eine gegebene Ordnung einbettet, eine Ordnung, die die G"ultigkeit der – wie auch immer definierten – Evolutionsgesetze garantiert. Selbstverst"andlich ist auch ‚Holism‘ ein moderner Begriff, der alte metaphysische Probleme nicht l"ost oder abwirft, sondern in modernem Design reformuliert.
Auch wenn das Wort ‚Holism‘ jung ist, gab es holistisches Denken schon sehr viel fr"uher. Goethes Faust bestaunt das Zeichen des Makrokosmos mit den Worten:
Wie alles sich zum Ganzen webt,Eins in dem andern wirkt und lebt! [Goethe 1987, I/14: 30]Dabei wusste Goethe sehr wohl um die metaphysische Dimension dieses holistischen Denkansatzes. In den Zahmen Xenien heisst es entsprechend:
Sagst Du: Gott! So sprichst Du vom Ganzen [Goethe 1987, I/5,1: 144].