Русская германистика. Ежегодник Российского союза германистов. Т. 15. Революция и эволюция в немецкоязычных литературах
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Michajlov referiert diesen holistischen Grundzug der russischen Literaturwissenschaft mit einem stillen ironischen Genuss. In allen aktuellen westlichen Diskursen war er derart bewandert, dass er genau wusste, wie sein Zielpublikum auf diesen offen substantialistischen Begriff reagieren musste, dass dessen stets aktive poststrukturalistische Virenscanner auf „das Ganze“ sofort reagieren w"urden. Dennoch distanziert er sich nicht davon, im Gegenteil. Seine Erz"ahlungen davon, dass im russischen Umfeld „Nur-Germanisten“ kaum gedeihen konnten, dass man als Vertreter viel gr"osserer Einheiten, wie sie Veselovskij und Curtius vorschwebten, sein Fach auch gelegentlich wechseln konnte, indem man zum Beispiel wie Viktor Zirmunskij aus der Germanistik in die Indogermanistik fl"uchtete, best"atigen den holistischen Ansatz eher.
Noch bei Michajlov gilt also, dass von ‚Evolution‘ nur derjenige reden kann, der die holistisch-metaphysischen Pr"amissen dieses Begriffs bewusst akzeptiert. Gilt das auch f"ur die klassischen Evolutionstheoretiker, f"ur Ejchenbaum, Sklovskij, Tynjanov und ihre Mitstreiter? Ich meine, es gilt ganz uneingeschr"ankt.
In seinem Aufsatz „Theorie der formalen Methode“ von 1925 definiert Ejchenbaum die sogenannte formale Schule diskurstheoretisch, n"amlich "uber das, was er und andere in den letzten zwanzig Jahren betrieben h"atten, oder anders gewendet: "uber die Evolution der formalen Schule. Im Kern ging es darum, die eigentliche Wissenschaft von der Literatur "uberhaupt erst zu erfinden oder doch zumindest neu zu definieren. Das geschah "uber die Definition des Gegenstands der Literaturwissenschaft, nicht "uber ihre Methode. Der Gegenstandsbereich formaler Literaturwissenschaft ist ein doppelter. Einerseits liegt er in der artifiziellen Gemachtheit des poetischen Texts, in seiner Literarizit"at und "Asthetizit"at. Das hat nur indirekt mit Evolution zu tun. Der zweite Gegenstandsbereich liegt in einer neuen Art, Literaturgeschichte zu konstruieren. Was unterscheidet die „literarische Reihe“ [Ejchenbaum 1965: 14] von anderen Reihen kulturgeschichtlicher Fakten, so lautete die zentrale Frage. Dass die universalgeschichtliche Betrachtung der Kultur als Ganzer unaufl"oslich mit der Literaturgeschichte verwoben sei, wurde im Sinne Veselovskijs wie der deutschen Kunstwissenschaft W"olfflins und anderer ausdr"ucklich anerkannt [vgl. Ejchenbaum 1965: 13, 10]. Nur sei dieses Ganze Gegenstand eines grossen Ensembles von Wissenschaften, 3 die jedoch aus den m"oglichen Reihenbildungen kulturgeschichtlicher Fakten ihre jeweils eigene klar ausdifferenzieren m"ussten, um sich disziplin"ar voneinander zu unterscheiden. So gesehen postulierte Ejchenbaum zu seiner Zeit genau das Gegenteil von dem, was wir als „cultural turn“, als transdisziplin"aren Zusammenschluss von Wissenschaftsdisziplinen zun"achst gefeiert, dann aber eventuell im Zuge der „Rephilologisierung“ verworfen haben.
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[Ejchenbaum 1965: 14]: „Statt einer Wissenschaft von der Literatur entstand ein Konglomerat hausgemachter Disziplinen.“
Die literaturgeschichtliche Reihe repr"asentiert nach Ejchenbaum und Sklovskij die „literarische[] Evolution“, die aus der „Dynamik der Gattungen“ hervorgeht, die sich in einem Prozess von Kanonisierung und Entkanonisierung unausgesetzt dialektisch neu erzeugen [vgl. Ejchenbaum 1965, 47]. Was sich zun"achst so ph"anomenologisch ausnimmt, ist aber im Kern holistisch gemeint: „Uns kommt es darauf an, in der Evolution Anzeichen f"ur eine geschichtliche Gesetzm"assigkeit aufzusp"uren“; es geht um „das Problem der Evolution ausserhalb der Person, [um] die Bestimmung der Literatur als eines eigent"umlichen Sozialph"anomens“ [Ejchenbaum 1965: 48]. Und so greift die neue Literaturwissenschaft doch wieder in das grosse Ganze der Menschheitsgeschichte aus.
Innerhalb dieser Evolutionsgeschichte literarischer Formen kennt Ejchenbaum auch ‚Revolutionen‘: „Jede neue Schule in der Literatur ist eine Art Revolution, so etwas wie das Auftreten einer neuen Klasse.“ [Ibid.: 47] In seinem Aufsatz „Die russische Literatur im Jahre 1912“ (von 1923) konkretisiert er das anhand der "Uberwindung des Symbolismus:
Es galt, das Verh"altnis zur poetischen Sprache umzuw"alzen, die zu einem toten Dialekt ohne lebendige Entwicklung und lebendige Phantasie degeneriert war. Man musste entweder eine neue wilde Redeweise erfinden oder aber die "uberlieferte poetische Sprache von den Fesseln des Symbolismus befreien. Die Frage lautete: Revolution oder Evolution [Ejchenbaum 1965: 155].
F"ur die Revolution stehen bekanntlich die Futuristen, f"ur die Evolution die Akmeisten, und beide k"ampfen um die Dominanz im literarischen Feld, um eine neue Kanonisierung.
„Revolution oder Evolution“? – Ejchenbaum nutzt beide Begriffe zur Beschreibung der literaturgeschichtlichen Reihe und unterstellt so beide derselben „geschichtliche[n] Gesetzm"assigkeit“. Gesetzm"assig verlaufende Prozesse kennen aber keine ‚Revolutionen‘ im radikalen Sinne des oben beschriebenen Leerstellenbegriffs, sie kennen keinen Bruch in der gesetzm"assigen Evolution und auch kein Herausfallen aus der Herrschaft des Evolutionsgesetzes. So gesehen depotenziert Ejchenbaum den ‚Revolutions‘-Begriff erheblich, indem er ihn zu einer Sonderform evolution"arer Entwicklung macht, die sich allein durch ihre radikale Beschleunigung („Schroffe historische Umbr"uche“ [Ejchenbaum 1965: 155]) von anderen unterscheidet. In diesem Sinne ist ‚Revolution‘ nicht das Andere einer als g"ultig vorausgesetzten Ordnungsstruktur, sondern dessen Teil, eben nur eine besondere Erscheinungsform von Evolution.
Dieser Befund gilt "uberall, wo der Begriff ‚Revolution‘ unter der Herrschaft eines "ubergeordneten holistischen Konzepts von Gesetzm"a-ssigkeit und Evolution steht. Und das gilt selbst f"ur den Marxismus. In seiner Schrift Das Elend der Philosophie formuliert Marx:
Nur bei einer Ordnung der Dinge, wo es keine Klassen und keinen Klassengegensatz gibt, werden die gesellschaftlichen Evolutionen aufh"oren, politische Revolutionen zu sein [MEW IV, 182].
Die „Ordnung der Dinge“, die Ordnung des Seins aber ist im Historischen Materialismus nicht nur f"ur das Enden von Revolutionen verantwortlich, sondern auch f"ur deren notwendiges Auftreten in vorkommunistischen Gesellschaftsformationen. ‚Revolution‘ aus historischer Notwendigkeit aber meint den depotenzierten Revolutions-Begriff, meint eben nicht eine Leerstelle im universalen Deutungsentwurf der Geschichte, sondern im Gegenteil eine Sondererscheinung der historischen Evolution, die sich nur durch Radikalit"at und Tempo unterscheidet.
Fragen wir abschliessend nochmals: Revolution oder Evolution? Welcher Begriff ist f"ur uns ach so Moderne der relevantere? Ich meine, wir haben einen Sieger nach Punkten: Zwar bekennen wir uns, dekonstruktionsfreudig wie wir sind, konsequent zu metaphysikfreien Leerstellenbegriffen wie ‚Revolution‘, doch m"ogen wir in dieser geistigen Leere, K"alte und Einsamkeit nicht leben und finden keine verbildlichte Orientierung, weder f"ur unser Denken noch f"ur unser Handeln. Wir m"ogen "ubrigens so auch nicht unsere eigene Wissenschaft betreiben. Deshalb greifen wir begierig nach solchen Konzepten, die alte metaphysische Sinnzuweisungen in modernem Design reformulieren – und der ‚Evolutions‘-Begriff hat Konjunktur!
Beverley 1696 – Beverley, Thomas: A scheme of prophesy now to be fulfilled: or; A most humble appeal to the Lord God of the holy prophets, concerning the truth of what, hath been constantly declared, by the space of the last past twelve, and now this present thirteenth summer, of the kingdom of Christ entring into its succession in this following year, 1697. Together with a scheme of the great changes to be expected this present year, or in the very beginning of 1697, in preparation thereunto; and of the glorious revolution that shall be before the end of that year by that kingdom so entring its succession. [London: s.n. 1696].
Brockes 1721–48 – Brockes, Barthold Heinrich: Irdisches Vergn"ugen in Gott, bestehend in Physicalisch- und Moralischen Gedichten. 9 Bde. Hamburg: Kissner, 1721–48.
Curtius 1978 – Curtius, Ernst Robert: Europ"aische Literatur und lateinisches Mittelalter. 9. Aufl. Bern, M"unchen 1978.
DFWB 1977 – Deutsches Fremdw"orterbuch. Bde. 1–2: Photomechanischer Nachdruck der Ausg. Strassburg: Tr"ubner 1913; bearb. von Haus Schulz. Ab Bd. 3 bearb. von Otto Basler. 7 B"ande. Berlin, New York (NY): de Gruyter, 1974–1988 [zit. als DFWB1].