Русская германистика. Ежегодник Российского союза германистов. Т. 15. Революция и эволюция в немецкоязычных литературах
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Oder weniger poetisch in seinen Spinoza-Studien:
In jedem lebendigen Wesen sind das, was wir Theile nennen, der-gestalt unzertrennlich vom Ganzen, dass sie nur in und mit demselben begriffen werden k"onnen, und es k"onnen weder die Theile zum Mass des Ganzen noch das Ganze zum Mass der Theile angewendet werden [Goethe 1987, II/11: 317].
Das gilt analog f"ur das Individuum im Verh"altnis zum Ganzen seiner geschichtlichen Umwelt, was uns hier nicht weiter interessiert; es gilt aber auch f"ur das Kunstwerk als kleine Sch"opfung des K"unstlers im Verh"altnis zur Welt als grosser Sch"opfung Gottes:
Jedes Sch"one Ganze der Kunst ist im Kleinen ein Abdruck des h"ochsten Sch"onen, im Ganzen der Natur [Goethe 1987, I/47: 86].
Holistisches Denken gewann eine neue Qualit"at, als man es verzeitlichte. F"ur das alte synchrone Ordnungsdenken steht das Modell der Botanisiertrommel. Man zog durch die Natur und sammelte Versatzst"ucke ein, die man dann klassifizieren und kartographieren konnte, um das grosse Ganze des Ordnungszusammenhangs wieder sichtbar zu machen.
F"ur das neue diachrone Ordnungsdenken steht das Modell der Geschichtserz"ahlung, und zwar einer Geschichte im Singular, die alle Geschichten im Plural, wie man sie in der Vormoderne verzeichnete, aufsaugt, verdaut und daraus einen ununterbrochenen Faden der Koh"arenz spinnt. Ordnung offenbart sich nicht in synchroner Systematik, sondern in historischen Entwicklungen, besser in „der“ historischen Entwicklung "uberhaupt.
Daf"ur schloss man die "uberlieferten Daten, Fakten und Einzelgeschichten grossr"aumig zu einem Ganzen zusammen, das im 18. Jahrhundert „Universalgeschichte“ hiess. In einem strukturierten Zeitkontinuum erz"ahlt Universalgeschichte im 18. Jahrhundert von der „Vervollkommnung des Menschengeschlechts“, organisiert die eine Geschichte also als ganzheitlichen, sich langsam entfaltenden Sinnzusammenhang.
Im Journal meiner Reise im Jahre 1769 beschw"ort Herder den holistischen Zuschnitt einer entstehenden Universalgeschichte:
Welch ein Werk "uber das Menschliche Geschlecht! den Menschlichen Geist! die Cultur der Erde! aller R"aume! Zeiten! V"olker! Kr"afte! Mischungen! Gestalten! […] Grosses Thema: das Menschengeschlecht wird nicht vergehen, bis dass es alles geschehe! Bis der Genius der Erleuchtung die Erde durchzogen! Universalgeschichte der Bildung der Welt! [Herder 1877–1913, IV/353]
Nur einige Jahrzehnte sp"ater differenziert sich aus der Universalgeschichte die Kunst- und Literaturgeschichte aus, doch das holistischmetaphysische Erbe bleibt auch dieser unver"andert eingeschrieben. In seiner Abhandlung „Begriff einer Geschichte der Kunst und ihre Beziehung auf die Theorie“ von 1801/02 wiederholt August Wilhelm Schlegel fast w"ortlich Herders Emphase: „Folglich ist alle Geschichte Bildungsgeschichte der Menschheit“. Geschichte sei „Evolution des menschlichen Geistes“, sie zeuge von einem „unendliche[n] Fortschritt“, der sich aber nur bei der Betrachtung des Ganzen zeige. Es gelte: „nur im Ganzen darf die Beziehung auf eine Idee liegen“ [Schlegel, A. W. 1975: 68].
Zwei Jahre sp"ater beschw"ort Friedrich Schlegel in seinem Aufsatz „Geschichte der europ"aischen Literatur“ deren inneren organischen Zusammenhang:
Dieser ausserordentliche Umfang [der europ"aischen Literatur] macht die IDEE DES GANZEN notwendig […]. Die europ"aische Literatur bil-det ein zusammenh"angendes Ganzes, wo alle Zweige innigst verwebt sind, eines auf das andere sich gr"undet, durch dieses erkl"art und erg"anzt wird. Dies geht durch alle Zeiten und Nationen herab bis auf unsere Zeiten. Das Neueste ist aber ohne das Alte nicht verst"andlich [Schlegel, F. 1975: 78].
Man meint, hier bereits Ernst Robert Curtius zu h"oren:
Die europ"aische Literatur ist der europ"aischen Kultur zeitlich koextensiv, umfasst also einen Zeitraum von etwa sechsundzwanzig Jahrhunderten […]. Man erwirbt das B"urgerrecht im Reiche der europ"aischen Literatur nur, wenn man viele Jahre in jeder seiner Provinzen geweilt hat und viele Male die eine mit der anderen vertauscht hat [Curtius 1978: 22].
In den 1990er Jahren unternahm es Aleksandr Michajlov, dem westeurop"aischen, speziell dem deutschsprachigen Publikum die russische Literaturwissenschaft zu erkl"aren. Sein Ansatz war "uberaus subtil. Sein Bericht „Zum heutigen Stand der Germanistik in Russland“ von 1995 beginnt unter der ersten Zwischen"uberschrift „Das Ganze […]“:
Man versteht das Wissen in Russland gern als ein Ganzes und legt deswegen einen besonderen Wert auf das Fach"ubergreifende […] Man verstand und versteht noch das Ganze des Wissens […] als ein „organisches“ Ganzes (ein in der russischen Philosophie an der Wende zum 20. Jahrhundert besonders arg strapazierter Begriff), der in sich selbst besteht […] [Michajlov 1995: 188].
Das trifft ganz und gar auf den Gr"undungsvater der russischen Komparatistik, die methodisch in viele Einzelphilologien ausstrahlte, zu, n"amlich auf Aleksandr Veselovskij. Seine Historische Poetik versteht sich dezidiert als Evolutionsgeschichte, als Wissenschaft von den „einfachste[n] poetische[n] Formen“, die als ‚Motive‘, komplexer dann als ‚Sujets‘ „typische[] Schemata“ bildeten, so dass sich Literaturgeschichte als „Evolutionsschema der Sujethaftigkeit“ [Veselovskij 2009: 1, 2, 5] entfalten lasse. Aleksej Zerebin hat diesen holistischen Ansatz Veselovskijs als „eine Art Formgeschichte der Weltliteratur“ [Zerebin 2013: 267] charakterisiert.
Veselovskij entwickelte seine Historische Poetik, nachdem er einige Jahrzehnte Entscheidendes zur europ"aischen M"archen- und Mythenforschung beigetragen hatte. Um Parallelph"anomene in der M"archenliteratur zu erkl"aren, bediente man sich in der zweiten H"alfte des 19. Jahrhunderts dreier unterschiedlicher Narrative, die f"ur drei methodologische Ans"atze stehen: Entweder wurden Parallelen unter dem Begriff ‚Archaik‘ anthropologisch aus Urformen der Mythologie hergeleitet oder aber geographisch-historisch aus dem Prinzip der ‚Migration‘ erkl"art oder schliesslich unter der Kategorie ‚Polygenese‘ aus vergleich-baren Entstehungsumst"anden ohne direkten interkulturellen Kontakt abgeleitet. Egal, welches Narrativ bedient wurde, allen Ans"atzen eignet ein universalhistorisch-holistischer Ansatz des Ganzen der Kultur, der eine Ordnungsstruktur eingeschrieben ist, die sich in Evolutionsgesetzen fassen l"asst.