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Arthur Schnitzler
Traumnovelle
Erstes Kapitel
«Vierundzwanzig braune Sklaven ruderten die pr"achtige Galeere. Sie sollten den Prinzen Amgiad zu dem Palast des Kalifen bringen. Der Prinz war in seinen Purpurmantel geh"ullt. Er lag allein auf dem Verdeck unter dem dunkelblauen, sternbes"aten Nachthimmel, und sein Blick —»
Bis hierher hatte die Kleine laut gelesen. Jetzt fielen ihr die Augen zu. Die Eltern sahen einander l"achelnd an. Fridolin k"usste sie auf das blonde Haar und klappte das Buch zu. Es lag auf dem noch nicht abger"aumten Tische. Das Kind sah auf wie ertappt [1] .
1
Das Kind sah auf wie ertappt. – Ребенок выглядел так, как будто его уличили.
«Neun Uhr», sagte der Vater, «es ist Zeit, schlafen zu gehen.» Und Albertine beugte sich nun zu dem Kind. Die H"ande der Eltern trafen sich auf der geliebten Stirn. Mit z"artlichem L"acheln begegneten sich ihre Blicke. Das Fr"aulein trat ein. Sie mahnte die Kleine, den Eltern gute Nacht zu sagen. Das Kind erhob sich gehorsam. Es reichte Vater und Mutter die Lippen zum Kuss. Die Fr"aulein f"uhrte es ruhig aus dem Zimmer. Fridolin und Albertine sind nun allein geblieben. Sie haben ihre Erlebnisse wieder besprochen.
Es war in diesem Jahr ihr erstes Ballfest. Sie haben entschlossen, gerade daran noch vor Karnevalschluss teilzunehmen.
Was Fridolin betraf [2] , wurde er beim Eintritt in den Saal von zwei roten Dominos begr"usst. Er kannte ihre Identit"at nicht. Allerdings kannten sie verschiedene Geschichten aus seiner Studenten- und Hospitalzeit. Sie haben ihn in die Loge mit verheissungsvoller Freundlichkeit geladen. Dann haben sie sich mit dem Versprechen entfernt, sehr bald, und zwar unmaskiert [3] , zur"uckzukommen. Sie waren aber lange nicht da. Er wurde so ungeduldig, vorzog sich ins Parterre zu begeben [4] . Er hoffte den beiden Erscheinungen wieder zu begegnen. So angestrengt suchte er sie, konnte er sie nirgends finden. Stattdessen nahm ihn ein anderes weibliches Wesen unerwartet seinen Arm. Seine Gattin hat sich j"ah von einem Unbekannten befreit. Zuerst haben sie sein melancholisch-blasiertes Wesen und fremdl"andischer, anscheinend polnischer Akzent bezauberten. Aber pl"otzlich hat er sie durch ein unerwartet h"assliches und freches Wort verletzt. Er hat sie sogar erschrocken. Und so sassen Mann und Frau froh. Sie konnten ein entt"auschend banales Maskenspiel loswerden. Sie waren bald wie zwei Liebende, unter andern verliebten Paaren, im B"ufettraum bei Austern und Champagner. Sie plauderten vergn"ugt miteinander, als h"atten sie eben erst Bekanntschaft miteinander geschlossen [5] . Es war eine Kom"odie der Galanterie, des Widerstandes, der Verf"uhrung und des Gew"ahren. Nach einer raschen Wagenfahrt durch die weisse Winternacht waren sie heim.
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Was Fridolin betraf, … –
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und zwar unmaskiert, … – … а именно, без масок.
4
Er wurde so ungeduldig, vorzog sich ins Parterre zu begeben. … – Ему надоело ждать, так что он пошел к портьере.
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als h"atten sie eben erst Bekanntschaft miteinander geschlossen… – как будто только что познакомились.
Da sanken sie einander in die Arme. Zu einem schon lange Zeit haben sie noch nicht so heiss Liebesgl"uck erlebt. Ein grauer Morgen weckte sie zu bald.
Den Gatten musste fr"uh an die Betten seiner Kranken gehen. Hausfrau und Mutterpflichten liessen Albertine kaum l"anger ruhen [6] . So waren die Stunden in Alltagspflicht und Arbeit hingegangen. Die vergangene Nacht, Anfang wie Ende, war verblass. Und jetzt erst endete der Tag der Beiden. Das Kind ging schlafen. Es war keine St"orung mehr. Die Schattengestalten von dem Abend stiegen, der melancholische Unbekannte und die roten Dominos wieder zur Wirklichkeit empor. Jene unwichtigen Erlebnisse waren mit tr"ugerischem Schein vers"aumter M"oglichkeiten zauberhaft und schmerzlich verbunden. Harmlose Fragen, verschmitzte. Doppeldeutige Antworten wechselten hin und her. Keiner von beiden konnte es vermeiden, dass etwas nicht v"ollig stimmt. So f"uhlten sich beide zu r"achen. Sie "ubertrieben das Mass der Anziehung. Sie hat auf sie von ihren unbekannten Partnern am Ball ausgestrahlt. Sie machen sich lustig "uber ihre Eifersucht. Das zeigte jeder von ihnen, und jeder musste das merken. Aber jeder leugneten ihre eigene Anf"alle der Eifersucht weg. Doch aus dem leichten Geplauder "uber die Abenteuer der Nacht gerieten sie in ein ernsteres Gespr"ach "uber jene verborgenen, kaum geahnten W"unsche. Sie konnten auch in die klarste und reinste Seele tr"ube und gef"ahrliche Wirbel reissen. Sie redeten von den geheimen Bezirken. Sie versp"urten danach kaum Sehnsucht. Wohin konnte der unfassbare Wind des Schicksals sie f"uhren. Und w"ar’s auch nur im Traum? [7] Sie geh"orten v"ollig einander in Gef"uhl und Sinnen. Aber sie wussten, dass gestern nicht zum erstmal ein Hauch von Abenteuer, Freiheit und Gefahr sie angefasst. Sie versuchten selbstqu"alerisch, in unlauterer Neugier eines aus dem anderen Gest"andnisse herauszunehmen. "Angstlich r"uckten sie sich zusammen. Jeder von ihnen forschte in sich nach irgendeiner Tatsache. Sogar ein gleichg"ultiges Erlebnis, so nichtig es sein mochte [8] , war allm"ahlich unertr"aglich. Albertine war nun die Ungeduldigere, die Ehrlichere oder die G"utigere von den beiden. Aber sogar sie fand zuerst den Mut zu einer offenen Mitteilung. Und mit schwankender Stimme fragte sie Fridolin: «Erinnerst du dich an den jungen Mann? Er sass eines Abends im letzten Sommer am d"anischen Strand mit zwei Offizieren am benachbarten Tisch. Er hat ein Telegramm erhalten und sich eilig von seinen Freunden verabschiedet.
6
Hausfrau und Mutterpflichten liessen Albertine kaum l"anger ruhen. – Обязанности домохозяйки и матери едва ли позволяли Альбертине отдохнуть дольше.
7
Und w"ar’s auch nur im Traum? – Было бы это даже во сне.
8
so nichtig es sein mochte – хотя бы самое пустяковое
Fridolin nickte. „Was war es mit ihm?“ fragte er.
„Ich hatte ihn schon des Morgens gesehen“, antwortete Albertine,» er stieg mit seiner gelben Handtasche eilig die Hoteltreppe hinein. Er hat mich fl"uchtig gemustert. Aber erst ein paar Stufen h"oher blieb er stehen. Er wandte sich nach mir um. Und dann mussten sich unsere Blicke begegnen. Er l"achelte nicht. Ja, eher schien mir, dass sich sein Antlitz verd"usterte. Mir war es wohl "ahnlich. Denn ich war bewegt wie noch nie. Den ganzen Tag lag ich traumverloren am Strand.
Wenn er mich rief, so konnte ich nicht widerstehen. Zu allem glaubte ich mich bereit, dich, das Kind, meine Zukunft hinzugeben. Ich glaubte mich so gut wie entschlossen. Wirst du es verstehen? Warst du mir teurer als jemand? Du musst dich noch erinnern: Gerade an diesem Nachmittag plauderten wir so vertraut "uber tausend Dinge, auch "uber unsere gemeinsame Zukunft, auch "uber das Kind, wie schon seit lange nicht mehr. Bei Sonnenuntergang sassen wir auf dem Balkon, du und ich. Da ging er vor"uber unten am Strand. Er blickte nicht auf. Ich war gl"ucklich, ihn zu sehen. Dir aber strich ich "uber die Stirne und k"usste dich aufs Haar. Und in meiner Liebe zu dir war zugleich viel schmerzliches Mitleid. Am Abend war ich sehr sch"on. Du hast es mir selber gesagt. Ich trug eine weisse Rose im G"urtel. Es war vielleicht kein Zufall, dass der Fremde mit seinen Freunden in unserer N"ahe sass. Er blickte nicht zu mir. Ich aber spielte mit dem Gedanken: Ich wollte aufstehen und an seinen Tisch treten. Ich wollte ihm sagen: Da bin ich, mein Erwarteter, mein Geliebter nimm mich hin. In diesem Augenblick brachte man ihm das Telegramm. Er las, erblasste, fl"usterte dem j"ungeren der beiden Offiziere einige Worte zu. Mit einem r"atselhaften Blick mich streifend [9] , verliess er den Saal. «Und?» fragte Fridolin trocken, als sie schwieg.
9
Mit einem r"atselhaften Blick mich streifend… – скользнув по мне загадочным взглядом.
«Nichts weiter. Ich weiss nur, dass ich am n"achsten Morgen mit einer gewissen Bangigkeit aufstand. Wovor ich mehr Angst hatte, ob er abgereist ist. Oder davor, dass er noch da sein kann. Das weiss ich nicht. Das habe ich auch damals nicht gewusst.
Doch als er auch mittags verschwunden blieb, atmete ich auf. Frage mich nicht weiter, Fridolin, ich habe dir die ganze Wahrheit gesagt. – Und auch du hast an jenem Strand irgend etwas erlebt, – ich weiss es.»
Fridolin stand auf, ging ein paarmal im Zimmer auf und ab. Dann sagte er: «Du hast recht.» Er stand am Fenster, das Antlitz im Dunkel. «Am Morgen», begann er mit verschleierter, etwas feindseliger Stimme. «Manchmal sehr fr"uh noch, ehe du bist aufgestanden. Ich ging lang den Ufer entlang, "uber den Ort hinaus.
Und so fr"uh war es war. Immer lag schon die Sonne hell und stark "uber dem Meer. Da draussen am Strand gab es kleine Landh"auser. Wie du weisst, die waren eine kleine Welt f"ur sich. Manche waren mit umplankten G"arten. Manche waren auch nur von Wald umgeben. Und die Badeh"utten waren von den H"ausern durch die Landstrasse und einem St"uck Strand getrennt. Kaum konnte ich in so fr"uher Stunde Menschen begegnen. Und Badende konnte ich "uberhaupt niemals sehen. Eines Morgens aber sah ich ganz pl"otzlich einer weiblichen Gestalt. Sie war eben noch unsichtbar. Auf der schmalen Terrasse einer in den Sand gepf"ahlten Badeh"utte [10] , setzte die weibliche Gestalt einen Fuss vor den andern. Sie spreitete die Arme nach r"uckw"arts an die Holzwand und bewegte sich vorsichtig weiter. Es war ein ganz junges, vielleicht f"unfzehnj"ahriges M"adchen mit aufgel"ostem blonden Haar. Es floss "uber die Schultern und auf der einen Seite "uber die zarte Brust herab.
10
Auf der schmalen Terrasse einer in den Sand gepf"ahlten Badeh"utte – по узкой тераасе купалне, установленной в песке…
Das M"adchen sah vor sich ins Wasser. Es ging langsam die Wand entlang mit gesenktem Auge weiter. Und pl"otzlich stand es mir gerade gegen"uber. Mit den Armen griff sie weit hinter sich. Es wollte sich fester anklammern. Das M"adchen sah auf und erblickte mich pl"otzlich. Ein Zittern ging durch ihren Leib, als m"usste sie sinken oder fliehen [11] . Doch konnte sie sich auf dem schmalen Brett nur ganz langsam weiterbewegen. So blieb sie da nun stehen. Zuerst mit einem erschrockenen, dann mit einem zornigen, endlich mit einem verlegenen Gesicht. Mit einem Mal aber l"achelte sie, l"achelte wunderbar. Es war ein Gr"ussen, ja ein Winken in ihren Augen und zugleich ein leiser Spott. Damit streifte sie ganz fl"uchtig zu ihren F"ussen das Wasser, das mich von ihr trennte. Dann reckte sie den jungen schlanken K"orper hoch, wie ihrer Sch"onheit froh [12] . Wie leicht zu merken war, war sie stolz und s"uss erregt durch den Glanz meines Blicks. So standen wir uns gegen"uber. Vielleicht zehn Sekunden lang, mit halboffenen Lippen und flimmernden Augen. Unwillk"urlich breitete ich meine Arme nach ihr aus. Hingebung und Freude waren in ihrem Blick. Mit einem Mal aber sch"uttelte sie heftig den Kopf, l"oste einen Arm von der Wand, deutete gebieterisch. Ich sollte mich entfernen. Und ich brachte es nicht gleich "uber mich zu gehorchen. Es kam ein solches Bitten, ein solches Flehen in ihre Kinderaugen. So blieb mir nichts anderes "ubrig, als mich abzuwenden [13] . So rasch als m"oglich setzte ich meinen Weg wieder fort. Ich sah mich kein einziges Mal nach ihr um. Nicht eigentlich aus R"ucksicht, aus Gehorsam, aus Ritterlichkeit. Sondern darum, weil ich unter ihrem letzten Blick eine solche Bewegung versp"urt habe. Ich habe mich eben ohnm"achtig gef"uhlt.» Und er schwieg.
11
als m"usste sie sinken oder fliehen. – словно она была близка к обмороку или бегству.
12
wie ihrer Sch"onheit froh. – словно радуясь своей красоте.
13
So blieb mir nichts anderes "ubrig, als mich abzuwenden – мне не оставалось ничего иного, как отвернуться.
«Und wie oft», fragte Albertine, «bist du nachher noch denselben Weg gegangen?»
«Was ich dir erz"ahlt habe», antwortete Fridolin, «geschah zuf"allig am letzten Tag unseres Aufenthalts in D"anemark. Auch ich weiss nicht, was unter anderen Umst"anden geschehen konnte. Frag, auch du nicht weiter, Albertine.»
Er stand immer noch am Fenster, unbeweglich. Albertine erhob sich. Sie trat auf ihn zu. Ihr Auge war feucht und dunkel. «Wir wollen einander solche Dinge k"unftighin immer gleich erz"ahlen», sagte sie.