Россия и Запад
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Das Zauberkraut des Farns macht also unsichtbar, und unsichtbar bleibt in Brodskys Gedicht das Farn-Motiv nach seiner Erw"ahnung im Titel. Doch der Gedichttext umspielt, ironisiert und parodiert Orakelspr"uche und alte Praktiken der Weissagung. Seien es simple Bauern — oder Wetterregeln (Anfang 2. Strophe), sei es die traditionell von Zigeunern praktizierte Handlesekunst, die Chiromantie ("Ubergang 4. / 5. Strophe), sei es eine alttestamentarische Weissagung, das Menetekel auf der Wand beim letzten babylonischen K"onig Belsazar (3. Strophe), das beim Propheten Daniel (5, 25–30) geschildert wird. Auf die babylonische Praxis des Sterndeutens, die Kunst der Chald"aer, wird in der 7. Strophe angespielt: «Am Flimmern des Sterns — dass das Mitleid leider abgeschafft ist…»
Selbst das alte griechische Orakel in Delphi, das aus der Stimme brach, aus der Stimme der auf dem Dreifuss "uber einer Erdspalte sitzenden Pythia, ist pr"asent in der parodistischen Version der
Ob als verballhomtes Delphi-Orakel, ob als babylonisches Stemdeuten oder biblisches Menetekel, ob als Bauern — und Wetterregel, als zigeunerische Handlesekunst oder urt"umliche Deutung der Ver"astelungen des Farnkrauts: Der allgemein-menschliche — und hilflose — Versuch einer Zukunftsvorhersage, der bei zahllosen V"olkern beharrlich unternommen wurde, bezeichnet das zentrale Geschehen in diesem Brodsky-Gedicht, auch wenn der postmoderne Dichtersich dem Gegenstand ironisch-parodistisch n"ahert.
Der Dichter selber ist das archaische «Farnkraut», das hier seine «Anmerkungen zur Zukunft» macht. Er ist selber ein Instrument der Zukunftsdeutung, ein sp"ater Vertreter der alttestamentarischen Propheten, auch wenn er die hehre Instanz noch so parodistisch bricht. Damit wird ebenso der Ursprung der Poesie aus der Magie, aus den Zauberspr"uchen beschworen wie die uralte Verbindung von Poesie und Orakel. Der Gott der Poesie und der Gott des Orakels ist ein und derselbe: Apollon.
Dieses «Farnkraut» namens Brodsky kennt das Resultat aller Zukunft von allem Anfang an, wenn er die Verfahren der Mantik ironisch bis sarkastisch einander abl"osen l"asst. Er kennt die «Perspektive», die auch in anderen Gedichten der Sp"atzeit Brodskys aufblitzt, das Ziel und Ende eines jeden Menschenlebens: Du wirst sterben. In der leicht saloppen Version der 3. Strophe: «Der Helle hat / "uberall die Perspektive dass er aus dem Gesichtsfeld / kippt. Und h"ort er eine Glocke an sein H"ororgan flitzen / so schl"agt die ihm: man s"auft man sticht man gibt den Teller ab» («Человеку всюду / мнится та перспектива, в которой он / пропадает из виду. И если он слышит звон, / то звонят по нему: пьют, бьют и сдают посуду»).
Dass diese Perspektive universal g"ultig ist, besagt gerade das verschl"usselte Zitat der Totenglocke, die bei einem von Brodskys Lieblings-dichtem auftaucht — bei dem «metaphysical poet» John Donne (1572–1631), den er nicht nur in der «Grossen Elegie f"ur John Donne» von 1963 w"urdigte, sondern auch ins Russische "ubersetzte. Im Anhang zu seinem ersten autorisierten Gedichtband «Haltestelle in der W"uste» («Остановка в пустыне», New York, 1970) finden sich vier "Ubertragungen von Gedichten John Donnes.
Das Zitat der Totenglocke, das schon Hemingway f"ur den Titel seines Romans «For Whom the Bell Tolls» («Wem die Stunde schl"agt») sich aneignete, findet sich in der 17. Andacht des 1623 entstandenen Andachtbuches «Devotions» von John Donne:
No man is an island, entire of itself; every man is a piece of the Continent, a part of the Main; if a clod be washed away by the Sea, Europe is the less, as well a Promontory were, as well as if a Manor of thy friends or of thine owne were; any mans death diminishes me, because I am involved in Mankind; And therefore never send to know for whom the bell tolls; It tolls for thee.
Kein Mensch ist eine Insel, ein Ganzes in sich selbst; jeder Mensch ist ein St"uck des Kontinents, ein Teil der weiten Erde; wenn ein Erdklumpen weggesp"ult wird vom Meer, ist Europa geringer geworden, genau wie wenn es ein ganzer Vbrsprung, das Haus deiner Freunde oder dein eigenes w"are; der Tod eines jeden Menschen vermindert mich, denn ich bin verflochten mit der Menschheit; und darum schick beim Totengel"aut keinen aus, zu fragen, wem die Stunde schl"agt; denn sie schl"agt dir.
Noch im vulgarisierten Zitat ist die Perspektive klar. Keinerlei Orakel, keinerlei hilflose Versuche ausget"uftelter Zukunftsdeutung k"onnen es verdecken: Am Schluss steht der Tod, dein eigener Tod. Staub, Tod, Stille — darauf geht die Aussicht in diesem Gedicht. Ein Unikum im Wferk Brodskys: Es tragt ein Epigraph von einem deutschen Dichter, Peter Huchel (1903–1981), aus dem Gedicht «Die Engel» (im Band «Gez"ahlte Zeit», 1972) [243] .
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Die Beziehung Brodskys zu Peter Huchels Werk ist Gegenstand des Aufsatzes von Helbig H. Fussnoten zu einem Farn n"ordlich von Delphi. Zu Joseph Brodskys Umgang mit zwei Versen von Peter Huchel // Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft. Stuttgart. 47. Jahrgang, 2003. S. 376–404.
Die Praxis der Zukunftsdeutung ist so universal wie die allgemein-menschliche Angst vor dem Tod, vor dem Sterbenm"ussen. In Brodskys langem Gedicht «Gesprach mit dem Himmelsbewohner» («Разговор с небожителем») von 1970, wo der Sprechende sich nicht scheut, sich zum modemen Hiob zu stilisieren, heisst es in der 19. Strophe klar:
Ну что же, рой! Рой глубже и, как вырванное с мясом, шей сердцу страх пред грустною порой, пред смертным часом. Na also, grab schon! grab tiefer! Nur samt dem Fleisch herausgerissen n"ah ins Herz die Angst als deine Naht, die Angst vorm Sterbenm"ussen. [244]244
Brief in die Qase. S. 53.
Und gleich in der folgenden Strophe, ganz "ahnlich wie in dem zwei Jahrzehnte sp"ater entstandenen Gedicht «Anmerkungen eines Farns»: «Die Perspektive des Sterbens / steht immer offen dem Auge» («раз перспектива умереть / доступна глазу»).
Das Besondere des Brodsky-Gedichtes «Anmerkungen eines Farns» liegt aber darin, dass es nicht nur die Verfahren der Zukunftsdeutung parodiert, sondern auch Strategien entwickelt und Empfehlungen gibt, wie dieser vemichtenden Aussicht begegnet werden k"onnte. Der postmoderne Prophet sagt nicht nur die Zukunft voraus und formuliert die Perspektive des Todcs, sondern gibt Anleitungen, Ermahnungen. Sie sind das Wesentliche in diesem Gedicht. Und nicht die Zukunft. Denn der Zukunft gegen"uber war Brodsky zutiefst misstrauisch gestimmt. Das Gedicht «Vertumnus» («Вертумн») von Dezember 1990 spricht eine deutliche Sprache:
Пахнет оледененьем. (…) В просторечии — будущим. Ибо оледененье есть категория будущего, которое есть пора, когда больше уже никого не любишь, даже себя. (…) В определенном смысле, в будущем нет никого; в определенном смысле, в будущем нам никто не дорог. (…) Будущее всегда настает, когда кто-нибудь умирает. Особенно человек. Тем более — если бог. Es riecht nach Eiszeit. (…) Einfach ausgedruckt — nach Zukunft. Denn Vereisung ist eine Kategorie der Zukunft, einer Zeit, wo du niemanden mehr lieben wirst, auch dich selber nicht. (…) In einem gewissen Sinne gibt es in der Zukunft niemanden; sozusagen ist uns in der Zukunft niemand lieb und teuer. (…) Die Zukunft bricht immer an, wenn jemand stirbt. Besonders ein Mensch. Erst recht — ein Gott. [245]245
Brief in die Qase. S. 215.