Немецкий с любовью. Новеллы / Novellen
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Der Amokl"aufer
Im M"arz des Jahres 1912 ereignete [105] sich im Hafen von Neapel bei dem Ausladen eines grossen "Uberseedampfers ein merkw"urdiger Unfall, "uber den die Zeitungen umfangreiche, aber sehr phantastisch ausgeschm"uckte [106] Berichte brachten. Obzwar Passagier der „Oceania“, war es mir ebenso wenig wie den anderen m"oglich, Zeuge [107] seltsamen Vorfalles zu sein. Es ereignete sich zur Nachtzeit w"ahrend des Kohlenladens und der L"oschung der Fracht [108] , wir aber, um den L"arm zu entgehen, alle an Land gegangen waren und dort in Kaffeeh"ausern oder Theatern die Zeit verbrachten. Immerhin meine ich pers"onlich, dass manche Vermutungen, die wirkliche Aufkl"arung jener Szene in sich tragen, und die Ferne der Jahre erlaubt mir wohl, das Vertrauen eines Gespr"aches zu nutzen, das jener seltsamen Episode unmittelbar [109] vorausging.
105
ereignen –
106
ausschm"ucken – приукрашивать
107
Zeuge, m – свидетель
108
Fracht, f – груз
109
unmittelbar – непосредственно
Als ich in der Schiffsagentur von Kalkutta einen Platz f"ur die R"uckreise nach Europa auf der „Oceania“ bestellen wollte, zuckte der Clerk bedauernd die Schultern. Am n"achsten Tage teilte er mir erfreulicherweise mit, er k"onne mir noch einen Platz vormerken, freilich sei es nur eine wenig komfortable Kabine unter Deck und in der Mitte des Schiffes. Ich war schon ungeduldig, heimzukehren. Ich z"ogerte nicht lange und liess mir den Platz zuschreiben.
Der Clerk hatte mich richtig informiert. Das Schiff war "uberf"ullt und die Kabine schlecht, ein kleiner gepresster, rechteckiger Winkel in der N"ahe der Dampfmaschine. Die stockende, verdickte Luft roch nach "Ol und Mod: nicht f"ur einen Augenblick konnte man dem elektrischen Ventilator entgehen. Von unten her ratterte und st"ohnte die Maschine, von oben h"orte man unaufh"orlich das schlurfende [110] Hin und Her der Schritte vom Promenadendeck. So fl"uchtete [111] ich wieder zur"uck auf Deck, und wie Ambra einatmete ich den s"usslichen weichen Wind, der vom Lande her "uber die Wellen wehte.
110
schlurfen – шаркать ногами
111
fl"uchten – бежать
Aber auch das Promenadendeck war voll Enge und Unruhe: es flirrte von Menschen, die mit der flackernden Nervosit"at plaudernd auf und nieder gingen. Das zwitschernde Gesch"aker [112] der Frauen, das rastlos kreisende Wandern tat mir irgendwie weh. Ich hatte eine neue Welt gesehen. Nun wollte ich mir "ubersinnen, zerteilen, ordnen, nachbildend das heiss in den Blick Gedr"angte gestalten. Aber es war unm"oglich, mit sich selbst auf dieser schattenlosen wandernden Schiffsgasse allein zu sein.
112
Gesch"aker, n – любезничание
Drei Tage lang versuchte ich, sah resigniert [113] auf die Menschen, auf das Meer. Aber das Meer blieb immer dasselbe, blau und leer, nur im Sonnenuntergang pl"otzlich mit allen Farben war es "ubergossen. Und die Menschen kannte ich auswendig nach dreimal vierundzwanzig Stunden. Jedes Gesicht war mir vertraut bis zum "Uberdruss, das scharfe Lachen der Frauen reizte, das Streiten zweier nachbarlicher holl"andischer Offiziere "argerte nicht mehr. So blieb nur Flucht: aber die Kabine war heiss und dunstig, im Salon produzierten englische M"adchen ihr schlechtes Klavierspiel. Schliesslich drehte ich entschlossen die Zeitordnung um, tauchte in die Kabine schon nachmittags hinab, nachdem ich mich zuvor mit ein paar Gl"asern Bier bet"aubt, um den Tanzabend zu "uberschlafen.
113
resegniert – примирившийся
Als ich aufwachte, war es ganz dunkel und dumpf in dem kleinen Sarg der Kabine. Meine Sinne waren irgendwie bet"aubt: ich brauchte Minuten, um mich an Zeit und Ort zur"uck zu finden. Mitternacht musste jedenfalls schon vorbei sein, denn ich h"orte weder Musik noch den rastlosen Schlurf der Schritte.
Ich tastete empor [114] auf Deck. Es war leer. Der Himmel strahlte. Er war dunkel gegen die Sterne, aber doch: er strahlte; es war, als verh"ullte [115] dort ein samtener Vorhang ungeheures Licht. Nie hatte ich den Himmel gesehen wie in dieser Nacht, so strahlend, so stahlblau hart und doch funkelnd, quellend von Licht, das vom Mond verhangen niederschwoll. Gerade aber zu H"aupten [116] stand mir das magische Sternbild, das S"udkreuz, mit flimmernden diamantenen N"ageln ins Unsichtbare geh"ammert [117] .
114
empor –
115
verh"ullen – застилать
116
zu H"aupten – над головой
117
h"ammern – прибивать
Ich stand und sah empor: mir war wie in einem Bade, wo Wasser warm von oben fallt. Ich atmete befreit, rein, und sp"urte auf den Lippen wie ein klares Getr"ank die Luft, die weiche, leicht trunken machende Luft, in der Atem von Fr"uchten, Duft von fernen Inseln war. Nun, nun zum ersten Mal, seit ich die Planken betreten habe, "uberkam mich die heilige Lust des Tr"aumens. So tastete ich weiter, allm"ahlich dem Vorderteil des Schiffes zu, ganz geblendet vom Licht, das immer heftiger aus den Gegenst"anden auf mich zu dringen schien. Ich hatte Verlangen, mich irgendwo im Schatten zu vergraben, hingestreckt auf eine Matte, den Glanz nicht an mir zu f"uhlen, sondern nur "uber mir.
Endlich kam ich bis an den Kiel und sah hinab, wie der Bug [118] in das Schwarze stiess und geschmolzenes Mondlicht sch"aumend zu beiden Seiten der Schneide aufspr"uhte. Und im Schauen verlor ich die Zeit. War es eine Stunde, dass ich so stand, oder waren es nur Minuten: im Auf und Nieder schaukelte mich die ungeheure Wiege [119] des Schiffes "uber die Zeit hinaus. Ich f"uhlte nur, dass in mich M"udigkeit kam, die wie eine Wollust [120] war. Ich wollte schlafen, tr"aumen und doch nicht weg aus dieser Magie, nicht hinab in meinen Sarg.
118
Bug, m – носовая часть
119
Wiege, f – колыбель
120
Wollust, f – наслаждение
Unwillk"urlich [121] ertastete ich mit meinem Fuss unter mir ein B"undel Taue. Ich setzte mich hin, die Augen geschlossen und doch nicht Dunkels voll, denn "uber sie, "uber mich str"omte der silberne Glanz. Unten f"uhlte ich die Wasser leise rauschen, "uber mir mit unh"orbarem Klang den weissen Strom dieser Welt. Ich f"uhlte mich selbst nicht mehr, wusste nicht, ob dies Atmen mein eigenes war oder des Schiffes fernpochendes Herz, ich str"omte [122] , verstr"omte in diesem ruhelosen Rauschen der mittern"achtigen Welt.
121
unwillk"urlich – бессознательно
122
str"omen – устремляться
Ein leises, trockenes Husten hart neben mir liess mich auffahren. Ich schrak aus meiner fast schon trunkenen Tr"aumerei. Meine Augen, geblendet vom weissen Geleucht "uber den bislang geschlossenen Lidern [123] , tasteten auf: im Schatten der Bordwand gl"anzte etwas wie der Reflex einer Brille, und jetzt gl"uhte ein dicker, runder Funke auf, die Glut einer Pfeife. Ich hatte, als ich mich hinsetzte, diesen Nachbarn offenbar nicht bemerkt, der regungslos hier die ganze Zeit gesessen haben musste. Unwillk"urlich, noch dumpf in den Sinnen, sagte ich auf Deutsch: „Verzeihung!“ „Oh, bitte…“ antwortete die Stimme Deutsch aus dem Dunkel.
123
Lid, n – веко